Von den Talenten
Der Padischah Mahmud von Ghasni verkleidete sich abends gerne als Bettler, um zu erfahren, was sein Volk so trieb. So geriet er einmal in eine Schar von Dieben. Diese sprachen ihn an und fragten: „Was bist du für einer?“
„Ich bin so einer wie ihr“, erwiderte der Padischah.
„Gut“, sagten die Diebe, „dann soll nun jeder sagen, was seine besondere Begabung ist, damit wir dann gemeinsam erfolgreich stehlen gehen können.“
Der erste sagte: „Ich kann verstehen, was die Hunde bellen.“
Der zweite meinte: „Ich kann jeden Menschen, selbst, wenn ich ihn nur nachts gesehen habe, sofort wiedererkennen«
„Ich bin sehr stark“, sagte ein dritter. „Wenn ich in einer Wand einen Riss finde, kann ich die ganze Wand einreissen.“
Ein vierter verkündete: „Ich habe eine gute Nase. Liegt irgendwo Geld vergraben, so kann ich es riechen.“
Der nächste Dieb sagte: „Ich bin ein Meister im Schlingenwerfen. Selbst wenn es eine sehr glatte und ebenmäßige Mauer ist, findet mein Seil daran Halt.“
Als nun sämtliche Diebe ihre Begabung verraten hatten, wandten sie sich an den verkleideten Padischah und fragten ihn: „Nun, was für eine Begabung besitzt du?“
Der Padischah erwiderte: „Ich besitze die Gabe, zum Tode verurteilte zu befreien, ich brauche dafür nur an meinem Bart zu zupfen.“ Die Diebe brachen in Begeisterungsrufe aus: „Du hast die beste Gabe. Sollten wir vor den Henker geführt werden, kannst du uns befreien. Sei unser Anführer!“
So machten sie sich gemeinsam auf den Weg. Sie kamen zu einem Haus, wo sie einbrechen wollten. Da hörten sie Hunde bellen und der erste der Diebe sagte: „Seltsam, die Hunde sagen, dass der Padischah bei uns ist.“
„Du bist ein Dummkopf, sicher meinen sie unseren neuen Anführer, der ist für uns wie ein Padischah, weil er Verurteilte befreien kann“, sagten die anderen.
Der Dieb, der Schätze riechen konnte, meinte: „Hier liegt ein Schatz, ich rieche Gold und Edelsteine.« Der Dieb, der ein Meister im Schlingenwerfen war, warf ein
Seil, und alle kletterten daran über die Mauer.
Der Kraftprotz grub einen Tunnel zu dem Raum, in dem sich der Schatz befand, und alle krochen hinein.
Die Diebe stahlen soviele Schätze, wie sie nur tragen konnten. Sie verließen das Haus und vergruben sämtliche Wertsachen außerhalb der Stadt, um sie später wieder auszugraben und unter sich zu verteilen. Dann trennten sie sich, und jeder ging nach Hause. Der Padischah erfuhr, wo jeder der Diebe wohnte, prägte sich ihre Namen ein und ging auf Umwegen zurück zu seinem Palast. Dort zog er die Bettlerkleidung aus, rief den Hauptmann der Palastwache und befahl die Diebe zu fangen. Der fand sie und brachte sie in den Palast vor den Padischah. Dieser sass auf seinem Thron und der Dieb, der jedes Gesicht wiedererkennen konnte, erkannte im Padischah sogleich den Bettler wieder und teilte es seinen Diebesfreunden mit. Da sagten die Diebe: Oh mächtiger Herrscher. Du hast das Recht, uns zum Tode zu verurteilen. Doch vorerst, so bitten wir dich, höre uns an.“
„So sprecht“, sprach der Padischah. „Nun“, begann der Dieb, der den Padischah wiedererkannt hatte, „letzte Nacht haben alle ihre Begabungen mitgeteilt und jeder hat sein Talent unter Beweis gestellt. Der erste hat die Sprache der Hunde übersetzt, der zweite den Schatz gerochen, der dritte, die Schlinge geworfen, der vierte den Tunnel gegraben und ich habe dich wiedererkannt, obwohl du als Bettler verkleidet warst und es dunkle Nacht war. Doch dein Talent haben wir bisher noch nicht gesehen.“ Der Padischah wurde nachdenklich, als er dies hörte. Dann zupfte er an seinem Bart, liess die Diebe begnadigen und verteilte die Schätze unter ihnen, so dass sie von nun an ohne Sorge leben konnten und nicht wieder zu stehlen brauchten.
Fassung Djamila Jaenike, nach: M. Lorenz, Der Zauberbrunnen, Leipzig 1985