Als der Löwe, der König der Tiere, gestorben war, wollten die Tiere einen neuen König wählen. «Das Tier mit der grössten Kraft soll König werden», rief der Elefant. Er trampelte hin und her und riss einen Baum mitsamt Wurzeln aus, um zu zeigen, dass er der stärkste ist. «Man muss nicht nur stark sein, sondern auch schnell», meinte der Tiger. «Schaut mich an. Meine Tatzen sind stark und meine Beine können so schnell rennen wie der Wind. Wählt mich zu eurem König.»
«Halt, halt!», rief das Nashorn. «Ein König muss stark sein im Kampf. Schon mancher Tiger ist im Kampf gegen mich zu Tode gekommen. Wählt mich zu eurem König!» Schnaubend stampfte das Nashorn Richtung Thron und stellte sich nah daneben auf. Die Tiere bestaunten die Kraft des Elefanten, die Schnelligkeit des Tigers und die Stärke des Nashorns. Doch keines der drei Tiere war sonderlich beliebt. Kam der Elefant in einer grossen Herde, so liess er kaum etwas für die anderen zurück. Dem Tiger waren schon einige Verwandte der Tiere zum Opfer gefallen und das Nashorn fing mit jedem Streit an. In diesem Augenblick flog ein Schatten über die Köpfe der Tiere. Sie schauten hinauf und sahen den Adler, der mit seinen mächtigen Flügeln durch die Luft direkt auf den Königsthron flog. Er schaute sich um und sprach: «Ich bin nicht nur stark und kräftig, ich kann auch fliegen. Wählt deshalb mich zum König, denn niemand kann höher fliegen als ich.» Die Tiere jubelten, klatschten und riefen: «Der Adler kann am höchsten fliegen, er soll der König sein. Hoch! Hoch!»
Doch mitten in dem Tumult flog der Kolibri zum Königsthron. Er flatterte mit seinen Flügelchen und sagte: «Wer sagt denn, dass du derjenige bist, der am höchsten fliegen kann? Bevor du unser König wirst, musst du es beweisen.» Da wurde die Menge still. Der Adler sprach: «Ich werde euch beweisen, dass ich am höchsten fliegen kann. Sollte der Kolibri höher fliegen können als ich, dann soll er König werden.» Als die Tiere dies hörten begannen sie zu lachen. Elefant, Tiger und Nashorn riefen: «Wie willst du denn höher fliegen können als der Adler, du bist ja viel zu klein!» Auch die anderen Tiere lachten den Kolibri aus. «Jetzt musst du mit dem Adler um die Wette fliegen, das geschieht dir recht!» Doch dieser liess sich nicht aus der Ruhe bringen. «Ich bin bereit!», rief er. «Von wo aus wollen wir losfliegen?»
Der Adler zeigte zu einer hohen Kokospalme. «Dort soll unser Wettflug beginnen.» Er hob seine grossen Flügel an und flog auf einen Ast der Palme. Der Kolibri flog ihm schnell hinterher und landete genau über dem Adler auf einem Ästchen. Alle Tiere standen im Halbkreis unter der Kokospalme. Der Hase sollte das Zeichen für den Beginn geben.  Als der Hase das Zeichen gab, erhob sich der Adler in die Luft. Der Kolibri, der über ihm gesessen hatte, liess sich auf dem Rücken des Adlers nieder und liess sich in den Himmel tragen. Die Tiere schauten nach oben und sagten: «Wir können nur den Adler sehen. Der Kolibri fliegt wohl so hoch, dass wir ihn gar nicht mehr sehen können.» Der Adler flog in weiten Kreisen immer höher und höher der Sonne entgegen. Schliesslich brannte die Sonne zu heiss, so dass der Adler beschloss, zurückzufliegen. In diesem Augenblick flatterte der Kolibri vom Rücken des Adlers hoch in die Luft und rief: «Schau, ich fliege höher als du!» Verwundert schaute der Adler nach oben und traute seinen Augen kaum, als er den Kolibri über sich am Himmel fliegen sah. Mit letzter Kraft versuchte er den Kolibri noch zu erreichen, doch er war schon zu erschöpft. Mit hängenden Flügeln raste er der Erde zu und landete erschöpft bei den wartenden Tieren. Diese hatten den Wettflug genau beobachtet und warteten gespannt auf den Kolibri. Als dieser endlich angeflogen kam, riefen sie: «Der Kolibri hat gewonnen, er ist unser neuer König!» So wurde der Kolibri der König der Tiere. Der Adler aber hat ihm die List bis heute nicht verziehen.

aus: Kindermärchen für Gross und Klein  © Mutabor Verlag

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch