Der König und sein Sohn

Land: Georgien
Kategorie: Novelle

Im Kaukasus lebte einmal ein mächtiger Herrscher. Sein Land war gross und reich an Schätzen, seine Soldaten stark und doch machte sich der König Sorgen. Denn über die Jahre war er müde und alt geworden. «Was wird geschehen, wenn ich einmal sterbe?», überlegte der König. «Wer wird unsere Grenzen bewachen und sich um die Menschen im Land kümmern?»
Der alte König hatte einen Sohn, doch dieser war noch jung und hatte keine Lebenserfahrung. «Wenn ich sterbe», dachte der alte König, «werden die Feinde das Land überfallen und vielleicht meinen Sohn töten.»
Die Sorge um seinen Sohn und sein Volk plagte ihn so sehr, dass er Tag und Nacht daran denken musste. Schliesslich rief er seinen Sohn zu sich und sprach: «Schau, ich bin alt und müde geworden. Bald wirst du den Thron besteigen und das Land regieren. Ich bitte dich deshalb: Reite durch das Land und richte Orte ein, wo du Schutz finden kannst, wenn das Land einmal in Gefahr ist.»
Der Prinz verbeugte sich, nahm Abschied vom Vater und machte sich schon am nächsten Tag auf die Reise. Mit seinem Pferd ritt er durch das ganze Land, er ritt über Berg und Tal und brauche ein ganzes Jahr, bis er wieder zurückkehrte.
Sogleich ging er in den Thronsaal, begrüsste seinen Vater und dieser fragte: «Nun, mein Sohn, konntest du meine Bitte erfüllen?»
«Ja, Vater», sagte der Sohn glücklich. «Ich habe überall im Land Wehrtürme aus festem Stein bauen lassen. Wenn die Feinde kommen, kann ich dort Schutz finden.»
Der König schwieg nachdenklich, dann sprach er: «Mein Sohn, was nützen dir Wehrtürme aus festem Stein, wenn du keine Freunde hast, die dir beistehen in der Not? Reite noch einmal los und suche Freundschaft mit den Menschen im Land.»
So ritt der Prinz noch einmal durch das Land. Er besuchte jedes Dorf, sprach mit den Menschen, half ihnen und gewann überall Freunde. Als er nach einem Jahr zurückkehrte, lag der König schwach auf seinem Bett. Er fragte: «Nun, mein Sohn, hast du meinen Wunsch erfüllt?»
Da lächelte der Prinz und umarmte seinen Vater. Bald darauf schloss dieser für immer die Augen und es geschah, was der alte König befürchtet hatte: Die Feinde griffen das Land an. Doch die Freunde des jungen Königs waren stärker und trieben die Feinde zurück.
Der junge König regierte noch lange und glücklich. Dies alles geschah vor langer Zeit, doch die Wehrtürme stehen bis heute.

Fassung Djamila Jaenike, nach: H. Fähnrich, Märchen aus Georgien, München 1995  unter dem Titel: „Der Herrscher und sein Sohn“ und anderen Fassungen.

The King and his son

Once upon a time there lived a mighty ruler in the Caucasus. His country was large and rich in treasures, his soldiers strong, and yet the king was worried. Over the years, he had grown tired and old. "What will happen when I die?" the king pondered. "Who will guard our borders and look after the people of the land?"

The old king had a son, but he was still young and had no experience of life. "If I die," thought the old king, "the enemies will attack the country and perhaps kill my son."

He was so worried about his son and his people that he had to think about it day and night. Finally, he called his son to him and said: "Look, I've grown old and tired. Soon you will ascend the throne and rule the land. I therefore ask you to ride through the country and set up places where you can find shelter if the country is ever in danger."

The prince bowed, said goodbye to his father and set off on his journey the very next day. He rode his horse through the whole country, travelling over mountains and hills, and it took him a whole year to return.

He immediately went into the throne room, greeted his father and he asked: "Well, my son, were you able to fulfil my request?"

"Yes, father," said the son happily. "I have had defence towers made of solid stone built all over the country. When the enemies come, I can find shelter there."

The king was silent and thoughtful, then he said: "My son, what good are defence towers made of solid stone if you have no friends to help you in times of need? Ride off once more and seek friendship with the people of the land."

So the prince rode through the country once more. He visited every village, spoke to the people, helped them and made friends everywhere. When he returned a year later, the king was lying weakly on his bed. He asked: "Well, my son, have you fulfilled my wish?"

The prince smiled and embraced his father. Soon afterwards, he closed his eyes forever and what the old king had feared happened: the enemies attacked the country. But the young king's friends were stronger and drove the enemies back.

The young king reigned happily for a long time. This all happened a long time ago, but the defence towers still stand today.

Fassung Djamila Jaenike, nach: H. Fähnrich, Märchen aus Georgien, München 1995  unter dem Titel: „Der Herrscher und sein Sohn“ und anderen Fassungen., englische Fassung Lysander Jaenike © Mutabor Märchenstiftung

Das kaukasische Land Georgien liegt in Vorderasien, wird zum grössten Teil Europa zugerechnet und ist seit dem Zerfall der Sowjetunion wieder unabhängig. Aufgrund von Bürgerkriegen und Eingriffen Russlands in den Regionen Abchasien und Südossetien, sind mehr als 250'000 Menschen aus Georgien geflohen. Die meisten Asylanträge werden negativ bewertet.

 

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