Die Sage vom Lago d'Elio

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

«Angiolina, erzählt mir eine hübsche Geschichte!», sagte ein Mädchen von acht oder neun Jahren zu einer alten Bäuerin, die bei einer Ecke des altertümlichen und geräumigen Kamines sass, wo ein Feuer von drei oder vier Kastanienscheitern brannte, die rauchten und ringsherum warm gaben, und aus deren Glut bisweilen hohe Flammen emporloderten und fröhlich knisternde Funken sprühten.

Angiolina war wirklich ein altes Mütterchen. Aus ihrem verbleichten bunten Nastuch, das sie mit zwei Zipfeln um den Kopf gebunden hatte und das hinten am Hals bis mitten auf den Rücken herunterhing, guckten weisse Haare hervor.

Also setzte sich Angiolina behaglich in ihrem Winkel am warmen Kaminfeuer zurecht, wickelte ihren Rock und die Schürze mit einer kreisenden Bewegung um die Knie und Füsse, damit sie nicht Feuer fingen, wärmte darnach die Hände an der lodernden Flamme und versteckte sie wieder in die Schürze. Darauf begann sie folgendermassen zu erzählen:

Vor Zeiten war einmal ein hübsches Dörfchen dort drüben auf halber Höhe des Gebirges. Es lag wie versteckt in seinem Schoss. Man sieht seine Stelle noch heute und braucht nur dort hinunterzugehen auf den Platz, wo unsere Kirche von Losone steht, von dort aus kann man\'s sehen.

Die Leute dieses Dorfes waren hartherzig und so böse, dass sogar der liebe Gott ihrer überdrüssig und darob so sehr erzürnt war, dass er beschloss, sie zu strafen.

Die Madonna jedoch, voller Mitleid, beschwichtigte ihn, und er versprach ihr, noch einen Tag mit der Ausführung seines Vorhabens zu warten, denn sie wollte noch versuchen, ob es ihr möglich wäre, einige der Bewohner zu bekehren, um die Strafe aufzuschieben oder gar abzuwenden.

So sah man denn an einem stockdunkeln Abend eine alte Bettlerin durch jenes Dörflein gehen, die ganz zerfetzte Kleider trug und vor den Türen um eine milde Gabe bettelte. Vergeblich klopfte sie an alle Türen, umsonst flehte sie mit sanfter und rührender Stimme, dass man sie einlasse und ihr ein Almosen spende. Niemand kam und öffnete ihr. Keiner gab ihr etwas. Die Türen und die Herzen der Bewohner von Elio blieben gleich fest verschlossen.

Als nun die alte Bettlerin überall die Runde im Dorf gemacht hatte, blieb sie ein wenig stehen, um sich umzuschauen, und Tränen des Schmerzes rannen ihr aus den Augen und fielen zur Erde. Dann wandte sie sich nach der Strasse, die aus dem Dorf wegführte. Da kam sie zu einer armseligen Hütte, an der sie aber dennoch anklopfte.

Die Tür wurde geöffnet, eine Frau trat ihr entgegen, die war ganz mager und abgezehrt vor Entbehrung und Elend. Und dann waren noch vier Kinder da, erschöpft und traurig wie ihre Mutter.

Als die Frau die alte Bettlerin sah, wie sie so spät noch umherging, um eine Unterstützung zu betteln, fühlte sie grosses Mitleid und hiess sie sofort mit liebreichen Worten hereintreten, führte sie an das kleine. Kaminfeuer und bat sie, in der am meisten geschützten Ecke Platz zu nehmen. Dann fachte sie das Feuer wieder an, damit sie ihre durchfrorenen Glieder wärmen könne und bot ihr einige Kartoffeln an, die sie in der Asche gebraten hatte, den Überrest ihres dürftigen Nachtmahls.

Die alte Bettlerin ass davon, dankte der Mutter und den Kindern, die schüchtern um sie herumstanden, mit einem solch liebevollen Blick und einem so sonnigen Lächeln, dass sich ihr Herz mit einer seligen Freude füllte, wie sie es bis zu diesem Tag noch nie verspürt hatten.

Ein Weilchen später, nachdem sie völlig erholt schien, stand sie auf, nahm Abschied von der Familie, wandte sich aber unter der Haustür nochmals zurück und sprach:

«Eure Gastfreundschaft hat euch gerettet, und ihr werdet die Belohnung empfangen. Behaltet morgen die Haustür offen und beobachtet diese Stelle im Stein.» Damit zeigte sie auf die Felsen vor dem Haus, indem sie mit ihrem Stöcklein daran schlug. «Sobald ihr die ersten Tropfen Wasser hier herabfliessen seht, so nehmet eure wenige Habe und flüchtet miteinander aus dieser Gegend, denn Gott der Herr hat sie verflucht.»

Kaum hatte sie das gesagt, so verschwand sie, wobei sie einen lieblichen Wohlgeruch und einen hellen Lichtschimmer zurückliess, der nach und nach in der Ferne erlosch.

Als jene Nacht vorüber war und der Tag anbrach, redeten die Kinder mit der Mutter immer noch von dem Vorgefallenen. Zitternd harrten sie auf das Wunder, das da geschehen werde, indem Wasser herauskommen sollte aus dem Felsen.

Sobald der Abend dämmerte, da, wie man bei uns im Tessin sagt, die Nase anfängt, einen Schatten zu werfen, wandten die Knaben kein Auge mehr von der Haustür und schauten unverwandt auf die bezeichnete Stelle.

Die Mutter dagegen, immer noch unentschlossen, ob sie das Häuschen verlassen sollte oder nicht — denn es war ihr einziges Gut und ihr alleiniger Zufluchtsort —, raffte für alle Fälle die wenigen Habseligkeiten zusammen, die ihr wert schienen, gerettet zu werden.

Und richtig, auf einmal schrien die Kinder wie mit einer Stimme:

«Mutter, Mutter, schau, schau, das Wasser, das Wasser, schnell fort!»

Auf dieses Rufen hin rannte die Mutter herbei, und noch bleicher geworden, als sie sonst schon war, sah sie wirklich einige Wassertropfen aus dem Stein herauskommen, der aber kein Loch zeigte und keinen Riss. Die Tropfen kamen immer häufiger und mit immer grösserer Geschwindigkeit, als wollten sie zur Flucht anspornen.

Zitternd vor Angst stellte sie sich vor den ältesten der Knaben. Der hob den Kleinsten auf den Rücken. Dann nahm sie die zwei andern Kinder an die Hand und lud einen mächtigen Sack auf die Schultern mit all dem, was sie von ihrer Habe retten wollte. Hierauf eilten sie fort auf die Strasse, die zum Dorf hinausführte und erreichten nach langem Wandern die Höhe eines Bergrückens, der sich langsam hinabsenkte. Schliesslich gelangten sie in ein geräumiges Tälchen und zuletzt in eine verlassene Blockhütte, in die sie hineingingen.

Dort zündeten sie ein Feuer an, um sich zu erwärmen und etwas sehen zu können. Im hintersten Winkel war ein Haufen Stroh. Auf diesen legten sich die Kinder hin und schliefen ein, ermüdet vom weiten Weg und von der Angst, die sie ausgestanden hatten.

Auch die Frau legte sich nieder und dankte Gott im Gebet, dass er sie aus der Gefahr gerettet. Dann versuchte sie zu schlafen; allein der Schlaf wollte nicht kommen, und sie verbrachte eine lange und kummervolle Nacht.

Endlich, endlich schimmerte die Morgenröte durch die Lücken der Hütte und meldete mit ihrem fahlen Licht der armen Frau, dass der Tag nicht mehr ferne sei. Und weil es ihr keine Ruhe mehr liess, stand sie, um ihre (Kinder nicht zu wecken, ganz leise auf, ging behutsam zur Hütte hinaus und lief an eine Stelle, von wo sie ihr Dörflein noch hätte erblicken können.

«Um Gottes willen!» rief die Frau und sank auf die Knie, denn es war ihr, als müsste sie sterben, so elend wurde ihr beim Anblick dessen, was sie vor Augen hatte. Von dem schönen Dorfe Elio war nichts mehr zu sehen. An seiner Stelle bildete eine weite und gleichförmige Wasserfläche einen See. Totenstille herrschte ringsumher. Weder ein Haus noch ein Stall war noch zu sehen, weder die Glocke einer Kuh noch einer Ziege oder eines Schäfchens unterbrach die Grabesruhe. Alles, alles war verschwunden, Leute und Vieh, ohne die geringste Spur übrig zu lassen.

Noch heute wird erzählt, dass man zu Zeiten, da der See von Gewittern plötzlich aufgewühlt wird und die Wellen sich mit Wut aufbäumen, aus der Tiefe die Glocken einer Kirche läuten höre. Diese sind nämlich geweiht und erinnern die Lebenden an das begangene Unrecht derer, die da begraben wurden, und an die Strafe, die Gott der Herr ihnen geschickt hat.

Man berichtet auch, wenn der See ruhig daliege wie ein Spiegel, dass man durch das Wasser ganz unten in der Tiefe Häuser, Dächer und Gässlein sehen könne als Überbleibsel des versunkenen Dorfes. Aber das erregt Schauder, und nur ganz wenige haben gewagt, so weit hinunterzublicken und jene geheimnisvollen Tiefen zu erforschen.

Dort, wo die Madonna jene heiligen Tränen geweint, sank die Erde nicht hinunter; es bildete sich ein Inselchen, so gross, dass ein Mensch darauf stehen konnte. Veilchen und Maiglöckchen erblühten dort immer. Mit der Zeit aber kamen neugierige Leute und wollten die Insel besuchen. Weil sie dadurch entweiht wurde, versank eines Tages auch dies Eiland im See.

Das war das Schicksal des Dorfes Elio.

Hier endete Angiolinas Erzählung zum grossen Bedauern der kleinen Zuhörerin, die noch gern, wer weiss wie lang, bei ihr gesessen hätte, um andere Geschichten zu vernehmen.

 

Am Kaminfeuer der Tessiner                                   

Walter Keller                                                         

Hans Feuz Verlag Bern

 

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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