Das Hemd des zufriedenen Menschen

Land: Schweiz
Kategorie: Novelle

Vor Zeiten war einmal ein König, der hatte ein Töchterlein. Das wurde schwer krank, und niemand wusste, was ihm fehlte. Deshalb liess er die besten Ärzte von nah und fern herbeirufen. Der eine riet ihm dieses, der andere jenes Mittel, um die Kranke zu heilen; aber keiner konnte ihr helfen.

Eines Tages langte ein Mann ganz erschöpft bei Hofe an, der von weit, weit herkam und von dem die Sage ging, dass er in seiner Heilkunst einzigartig sei. Der trat an das Lager der Kranken, schaute ihr in die Augensterne und sprach hierauf zum König: «Hoheit, um eure Tochter zu heilen, braucht es nur ein einziges Ding, ein sehr einfaches Mittel, nämlich das Hemd eines zufriedenen und völlig glücklichen Menschen.»

Sogleich liess der König alle seine Diener herbeirufen und sagte zu ihnen: «Da hat jeder ein Säcklein Geld, geht überall herum in den Städten und Dörfern des Landes und sucht mir einen zufriedenen Menschen. Und wenn ihr einen gefunden habt, so lasst euch sein Hemd geben und bezahlt dafür jeden Preis. Und wer es mir bringt, bekommt von mir noch eine besondere Belohnung.»

Die Diener machten sich also bald auf die Reise, und die einen gingen in dieser, die andern in jener Richtung. Zuerst begaben sie sich in die unweit vom Schloss gelegene Stadt. Dort trafen sie auf der Strasse einen Herrn an, der war prächtig gekleidet wie ein Graf.

«Seid ihr zufrieden und glücklich?» fragten sie ihn. «Ich, zufrieden? Ich bin eben im Begriff, meine kranke Frau im Spital zu besuchen.» Hierauf traten sie in einen prächtigen Palast ein und fragten den Herrn des Hauses: «Ihr müsst gewiss glücklich sein, da ihr ein so schönes Haus besitzt.» Aber der reiche Mann gab zur Antwort: «Wie kann ich zufrieden sein, wenn ich heute Morgen meine einzige Tochter zu Grab geleitet habe?» Jetzt führte sie der Weg durch einen öffentlichen Garten, und ihr Blick fiel auf einen Herrn, der, seine Zeitung lesend, spazieren ging. Gleich traten sie auf ihn zu und fragten ihn höflich: «Ihr seid gewiss ein glücklicher Mann, mein gnädiger Herr?» Der Gefragte erwiderte: «Seit drei Jahren bin ich krank. Wie ist es möglich, dass ich da zufrieden sein kann?»

Hierauf bogen sie in eine kleine Gasse ein und hörten einen Schuhmacher, der in seiner Werkstatt sang. Sie blieben vor seiner Bude stehen und redeten ihn an: «Euch geht\'s gewiss nicht schlecht, guter Mann, dass ihr so fröhlich singen mögt.» Und er: «Oh, ich singe nur, um meinen Kummer zu vergessen. Ich habe vierzehn Mäuler, die essen wollen, und nur diese beiden Arme zum Arbeiten. Ich kann nicht einmal meinen Hunger stillen. Nein, singen muss ich bisweilen, um alles zu vergessen, aber nicht, weil ich glücklich bin.»

Enttäuscht zogen sie weiter und traten in ein einfaches Bürgerhaus ein. Eine Frau mit kummervollem Antlitz öffnete ihnen. Auf ihre Frage gab die Frau zur Antwort: «Wie kann ich froh und glücklich sein? Seit ein paar Stunden warte ich auf meinen Mann, der gewiss wieder betrunken heimkehrt und alsdann schimpft und tobt. Ich muss Gott danken, wenn er mich nicht wieder schlägt.»

Anderswo trafen sie ein hübsches Brautpaar an, von dem sie glaubten, es wäre vor Glück im Himmel. Aber die beiden entgegneten traurig: «Ach Gott! man hat uns aus dem väterlichen Haus verjagt, und jetzt irren wir umher, um ein Obdach zu suchen.»

Und so richteten sie noch an viele Leute dieselbe Frage; nicht einer aber war mit seinem Schicksal zufrieden, ein jeder hatte irgendeinen Kummer im Herzen.

Da verliessen sie die Stadt und gingen aufs Land. Dort klopften sie an ein schönes Häuschen, das ganz in den Bäumen und Blumen versteckt lag und ein wahres Paradies zu sein schien. «Was, zufrieden? Die Hölle habe ich im Herzen», klagte der Hausherr, bei dem sie sich erkundigten. «Meine Frau ist ein wahrer Teufel, ein Unmensch. Und heute Morgen ist sie mir davongelaufen.»

Da machten sie sich von dannen und trafen bei einem Bauernhof einen Mann, der ganz friedlich aus einer Schüssel seinen Hirsebrei ass. «Lasst euch die gute Suppe schmecken, glücklicher Mann», redeten sie ihn an. «Oho, ich glücklich? Schaut einmal da! Seht ihr meinen Jungen?» Und richtig gewahrten sie in einem Winkel seinen Sohn, der wie ein Kälbchen am Boden lag, betrunken und verschmiert war und laut schnarchte wie ein Schwein.

Da hielten sie es für besser, das ebene Land zu verlassen und auf die Berge zu steigen. Unterwegs wollten sie in einer Alphütte Einkehr halten, aber da sass auf der Schwelle ein bleiches, abgemagertes Männlein und stützte sich auf seine Krücken. «Hier brauchen wir nicht noch lange nach dem Glück zu fragen», sagten sie zueinander und stiegen weiter ins Gebirge hinauf. Ganz oben, mit der Aussicht auf einen herrlich weiten Horizont und die blauen Tessiner-seen, hörten sie einen Hirten singen, der weidete seine Schafe und Ziegen und trällerte froh wie eine Amsel. Die Hofleute stiegen zu ihm hinauf und sprachen ihn an: «Ei, junger Mann, wie glücklich müsst ihr sein in dieser köstlichen Alpenluft! Euch wird nichts fehlen?» «Mir fehlt wahrhaft nichts als die Sonne, wenn sie nicht scheint. Ich bin wirklich froh und glücklich.»

«Gut so», sagten die Boten des Königs. «Wollt ihr uns nicht euer Hemd überlassen? Wir werden es euch mit Goldstücken aufwägen.» «Potztausend, wie schade! Es\' tut mir leid, dass ich euch nicht damit dienen kann.» Und mit diesen Worten öffnete er sein Wams und zeigte ihnen, dass er nur Hosen und Kittel, aber kein Hemd besass.

Also kehrten die Boten wieder an den Königshof zurück, und die Prinzessin konnte nicht geheilt werden.

 

Am Kaminfeuer der Tessiner                                   

Walter Keller                                                         

Hans Feuz Verlag Bern

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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