Das Zwergenkind

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

In einem Dorf lebte einmal eine ganz arme Familie. Das jüngste Kind war klein wie ein Zwerg und hiess deshalb Nanino. Und weil er so ein winziges Bürschchen war, dachte er, in die Ferne zu ziehen, sich aller Welt zu zeigen und dadurch sein Brot zu verdienen. Also nahm er eines Tages Abschied vom Elternhaus und zog von dannen.

Als Nanino sich mitten in einem Wald befand, kam er zu einer Strasse, die voll Wassertümpel war. Unser Zwerglein gab nicht acht und fiel in eine Wasserlache am Wegrand. Das Wasser ging ihm bis an den Hals\' hinauf, und weil er am Ertrinken war, fing er an, um Hilfe zu rufen.

Da kamen drei Räuber des Weges, die umherzogen, etwas zu stehlen. Sie hörten die Hilferufe und schauten um sich, konnten aber niemanden bemerken. Verwundert spähten sie, woher die Stimme gekommen sei. Nanino rief abermals. Jetzt erst erblickten sie den kleinen Knirps im Wassertümpel und zogen ihn heraus. Dann sprachen sie zueinander: «Der könnte uns gute Dienste leisten.» Darum fragten sie ihn, ob er mit ihnen ziehen wolle und er antwortete, er sei bereit dazu.

Die drei Diebe kamen überein, sie wollten bei einbrechender Dunkelheit der Mühle am Waldrand einen Besuch abstatten, um die dort aufgestapelten Maissäcke zu rauben und daraus Polenta zu kochen. Sie sprachen deshalb zu Nanino: «Du musst durch das Schlüsselloch kriechen und die Säcke mit türkischem Korn füllen. Und wenn du mit der Arbeit fertig bist, so lehne dich zum Fenster hinaus und gib uns ein Zeichen, dass wir kommen, sie zu holen.»

Also wanderten sie weiter durch den Wald, bis sie unten im Tal zur Mühle kamen. Flink schlüpfte der Zwerg durch das grosse Schlüsselloch, öffnete dann die Tür zum Maisboden und ging hinein. So klein er auch war, arbeitete er doch ausgiebig wie ein Erwachsener, und in kurzer Zeit waren die Säcke gefüllt. Sobald sie bereitstanden, lehnte sich Nanino zum Fenster hinaus und rief:

«Die Säcke sind voll!» Als der Müller, der im gleichen Häuschen wohnte, diese Schreie hörte, sprang er aus dem Bett und fürchtete, es seien Räuber in seiner Mühle. Sowie der Zwerg merkte, dass der Müller herbeikam, versteckte er sich in einem Sack voll Mais und rief aus seinem Versteck heraus:

«Zu Hilfe, sie wollen mich umbringen!»

Kaum hatte der Besitzer jene geheimnisvollen Worte vernommen, so geriet er in Angst und eilte davon, um Waffen zu holen. Mittlerweile kroch Nanino aus dem Sack und sprang zum Fenster hinaus.

Die drei Räuber, die auf ihn warteten, schalten ihn aus, dass er sie mit seinen dummen Reden beinahe verraten hatte. Und er war doch ein so lieber, einfältiger Knirps. Hernach wollten sie es noch einmal mit ihm versuchen und sagten ihm, er müsse in der nächsten Nacht auf den Estrichboden eines Bauernhauses steigen, wo viele Nüsse aufbewahrt wurden, um sie an der Luft zu trocknen. Dort solle er einige Säcke mit Nüssen füllen, aber beileibe keinen Lärm machen.

Der Zwerg schlüpfte durch ein Loch in der Haustür, das für die Katze zum Ein- und Ausgehen bestimmt war, stieg die Treppen hinauf und gelangte endlich auf den Dachboden, wo grosse Haufen Nüsse lagen. Da fing der kleine Grashüpfer an zu schreien:

«Soll ich die mit oder ohne Löcher nehmen?»

Die Räuber draussen zischelten, er solle doch ums Himmels willen stille sein, sonst käme der Hausherr herbeigelaufen. In der Tat hatte der Bauer die Schreie des Kleinen gehört. Flugs verbarg sich der Zwerg in einer hohlen Nuss und fing an aus Leibeskräften zu rufen:

«Zu Hilfe, der Hausherr will mich umbringen!»

Der Bauer fing an, die Nüsse zu untersuchen, und der Zwerg schrie immer lauter um Hilfe. Als der Hausherr die Stimme hörte, aber niemand sah, geriet er in Schrecken und lief davon. Nanino kroch aus der Nuss heraus und kehrte unbemerkt wieder zu seinen Kameraden zurück. Die standen noch immer in ihrem Versteck vor dem Haus und warteten auf ihn. Sie wollten ihn verjagen und drohten, ihn umzubringen, wenn er sie noch einmal mit seinem Hilferufen verrate.

Am folgenden Abend wollten sie in den Ziegenstall einer Witwe eindringen und die Geissen fortführen. Als Nanino hineingeschlüpft war und die vielen Ziegen sah, fing er laut an zu rufen:

«Soll ich die weissen oder die schwarzen nehmen?»

Die Gefährten bedeuteten ihm, er solle doch stille\' sein; aber umsonst, er schrie immerzu. Da erwachte die Bauersfrau, nahm ein Licht und ging in den Stall. Unser Zwerg aber verkroch sich in ein Loch in der Mauer. Als die Bäuerin sich vergewissert hatte, dass noch alle ihre Ziegen da waren und keine fehlte, stellte sie den Kerzenstock in die Nische in der Wand, gerade da, wo sich Nanino versteckt hatte. Jetzt fing der kleine Dummkopf an zu rufen: «Ich bin da! Ich bin tot!»

Nun bekam es die Bäuerin mit der Angst zu tun, sie stürzte zum Stall hinaus, und so konnte sich der Zwerg ins Freie retten.

Die Gefährten wollten jetzt aber nichts mehr von ihm wissen und jagten ihn fort. Nanino lief davon, so schnell ihn seine kleinen Beine zu tragen vermochten. Als er auf die Landstrasse gelangte, sah er einen vornehmen Herrn zu Pferd und fragte ihn, ob er ihn als Diener annehmen wolle. Der Reiter schaute ihn verwundert an und meinte: «Das wird euer Ernst nicht sein, denn ihr seid ja viel zu klein, und wenn ihr dem Pferd zu fressen gebt, so könnte es euch aus Versehen einmal verschlucken.» Unser Zwerg aber entgegnete, da sei nichts zu befürchten, denn er sei seiner Sache sicher und im Umgang mit den Pferden vertraut. Daraufhin nahm ihn jener Herr zum Diener an. Eines Tages aber, als der Herr von einem Spazierritt heimkehrte und das Pferd grossen Hunger hatte, brachte Nanino ihm zu fressen, und dabei geschah es, dass ihn das Tier mitsamt dem Heu verschluckte, ohne es im Geringsten zu merken. Dem Zwerglein aber gefiel es nicht in der dunklen Kammer des Magens, wo es stockfinster war und keine Fenster hatte. Flink kroch es wieder oben zum Hals hinauf, wobei das Ross ein starkes Kitzeln empfand, so dass es gewaltig niesen musste. Nanino wurde zu den Naenlöchern hinausgeschleudert und fiel im weiten Bogen zur Erde. Weil er aber behend war, geriet er in Heu und Gras und tat sich nicht weh.

Von da an hatte er nun seine Abenteuerfahrten durch die Welt satt bekommen und kehrte gern wieder zu Vater und Mutter heim, denen er das kleine Silberstück, das er bei dem reichen Herrn als Lohn erhalten hatte, überbrachte.

Am Kaminfeuer der Tessiner                                                              

Walter Keller                                                                                          

Hans Feuz Verlag Bern

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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