Der Diener ist klüger als sein Herr

Land: Schweiz
Kategorie: Novelle

Vor Zeiten lebte ein Abt, der ass, trank, schlief und ging immer mit hocherhobenem Kopf, ohne an etwas zu denken, spazieren. Ein König, der ihn kannte, sagte zu sich selbst: «Ich will diesem Mann einen Kummer bereiten, denn er scheint keinerlei Sorgen und Verdruss zu haben.» Also rief er ihn zu sich und sprach: «Herr Abt, ihr müsst mir folgende drei Dinge erraten:

Zum ersten: Wie viele Meilen ist es von der Erde bis hinauf zum Himmel?

Zum zweiten: Wie viele Armeslängen tief ist das Meer?

Zum dritten: Was denke ich in diesem Augenblick?

Wenn ihr mir innert zwei Tagen keine Antwort darauf bringen könnt, so ist\'s um euch geschehen.»

Da kehrte der Abt voller Betrübnis nach Hause zurück. Er mochte nicht mehr essen, nicht trinken, nicht schlafen, nicht mehr spazieren gehen und Hess seinen Kopf hängen. Er musste nur noch nachsinnen und denken. Sein Diener fragte ihn, was er habe, und er erzählte ihm alles, was der König zu ihm gesprochen hatte. «Nun gut», meinte der Diener, «ist das alles? Warum quält ihr euch deswegen so? Es ist doch das leichteste, was man sich denken kann. Gebt mir, gnädiger Herr, eure Kleider und lasst mich nur machen. Ich will für euch hingehen.» Und wirklich verkleidete sich der Diener als Abt, verschaffte sich zwei grosse Knäuel, den einen aus Schnur, den andern aus Zwirn und begab sich damit zum König. Sobald dieser ihn sah, fragte er ihn, ob er seine Antworten bereit habe. «Ja freilich, gnädiger Herr», erwiderte der Diener. Er zeigte ihm den Knäuel Schnur und fügte bei: «Diese Schnur ist gerade so lang wie die Entfernung von der Erde zum Himmel hinauf. Wenn Euer Gnaden es nicht glauben, so belieben Sie es selbst nachzumessen.»

Dann packte er den andern Knäuel aus und sprach: «So lang als dieser Zwirn ist die Tiefe des Meeres, und mit diesem Ende kann man gerade noch den Meeresgrund berühren. Will Eure Herrlichkeit es nicht glauben, so lasset es selbst nachmessen.»

«Ja freilich», entgegnete der König, «jetzt aber kommt der Augenblick, wo ich dich besonders prüfen will. So sag mir doch, was denke ich in diesem Augenblick?» — «Ihr denket, ich sei der Abt, mit dem ihr zu reden glaubt; aber das ist ein Irrtum. Ich bin nur sein Diener.»

Da wunde der König zornig. Er Hess einen für die königliche Tafel schön fertig zubereiteten Kapaun braten und herbeigetragen und sagte zum Diener: «Wie du jetzt mit diesem Hahnenbraten verfährst, so will ich an dir handeln. Schneidest du ihm ein Bein ab, so hau ich dir eins ab, schneidest du aber den Kopf ab, so mach ich es mit dir ebenso.» Da schaute der Diener dem Hahn auf den Kopf, nahm ein Messerlein und hieb ihm sorgfältig den Hahnenkamm ab. Dann wickelte er ihn in ein Papier und steckte ihn in die Tasche. Hierauf wandte er sich zum König und sprach:

Den Kamm, Herr König, schneidet Ihr mir nicht ab.

Ich bin nur ein Diener, eine Kron\' ich nicht hab.

So half der Diener seinem Abt aus der Verlegenheit und ging wieder zu seinem Herrn.

 

Am Kaminfeuer der Tessiner                                                              

Walter Keller                                                                                          

Hans Feuz Verlag Bern

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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