Wie die Kirche der Madonna die Sementina entstand

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Wer über die imposante Brücke geht, welche die Dörfer Monte Carasso und Sementina, unweit Bellinzona, verbindet, hält unwillkürlich inne, denn sein Auge wird von einem seltenen Anblick festgehalten. Längs des Tales erheben sich die berühmten Mauern einer alten Befestigung, die dem Tal und der ganzen Gegend ein historisches Gepräge geben. Aber noch altertümlicher wirkt die schöne Kirche, die unten im Flussbett des Bergbaches in einem Seitental steht. Warum sie gerade dort errichtet wurde, bildet für den Wanderer eine zweite Überraschung.

Als ich mit Verwunderung in die tief eingerissene Schlucht hinabblickte, kam gerade ein altes Mütterchen aus Sementina des Weges. Sie erriet sogleich meine Gedanken und erzählte mir folgendes:

Sehen Sie, die Kirche dort unten ist der heiligen Madonna aus Dankbarkeit geweiht. Das kam so: Vor alter Zeit wohnte im Tal eine ganz arme Witfrau mit zwei kleinen Kindern. Sie ging oft an das Ufer des Bergbachs hinunter, um herabgeschwemmte Hölzer aufzufangen und sich damit ein warmes Stübchen zu bereiten. Sie suchte also dieses Holz längs des Flussbettes, ohne an die grossen Gefahren zu denken, denen sie sich aussetzte. Eines Tages hatte es stark geregnet; aber der Bach war noch nicht angeschwollen. Die Frau nahm also das eine Kind auf den Arm, das andere an die Hand und begab sich gerade an den Punkt, wo heute die Kirche steht. Einige gutherzige Leute aus dem gleichen Dorf warnten sie noch, sie solle sich heute nicht in die Schlucht hinabwagen. Sie aber gab zur Antwort, sie habe soeben zur heiligen Maria gebetet, sie möge sie und ihre Kinder beschützen. Als sie an jener Stelle anlangte, vernahm sie plötzlich ein ungewöhnliches Getöse. Sie erriet bald, was es war und hatte keine Zeit, lange zu überlegen. Denn plötzlich kam eine gewaltige Flut Wassers daher, das eine Menge Steine und Holz mit sich führte. Augenscheinlich war sie mit ihren zwei Kindern nun verloren. Da erhob sie ihre Augen voll Vertrauen zu Gott und empfahl sich seinem Schutz. Und was geschah? Als das Wildwasser schon ganz nahe bei ihr war, trennte es sich plötzlich in zwei Arme, so dass die Fluten links und rechts an ihr vorüberrauschten und sie wie auf einer Insel stand. Noch immer betete sie, die Kinder an sich drückend, und blieb unversehrt. Als dann die Wasserflut vorüber war, dankte sie der göttlichen Vorsehung, die sie auf so wunderbare Weise gerettet hatte. Und nun geschah ein zweites Wunder. Gerade vor ihr auf einem Felsklotz erblickte sie eine Lichtgestalt, die Himmelskönigin, mit reichen Gewändern angetan. Bei diesem Anblick warf sich die Gioll, — dies war ihr Name — auf die Knie und verharrte mit ihren Kleinen im Gebet, bis die glänzende Erscheinung wieder verschwand.

Dann stieg sie aus der Schlucht empor und kehrte in ihr Dorf zurück, wo sie ihren Nachbarn ihr Erlebnis erzählte. Diese eilten sogleich an den Ort, um sich von dem Geschehnis zu überzeugen. Danach beschlossen sie, eine Kapelle zu errichten. Und zwar sollte diese nicht etwa auf der Insel, sondern oben am Berghang gebaut werden, um vor dem Hochwasser für immer sicher zu sein. Die Bauleute schafften auch alsbald das Material dazu herbei. Wie gross aber war ihr Erstaunen, als dieses über Nacht an den Fluss hinunter, eben an die Stelle gebracht worden war, wo das göttliche Bild der armen Witfrau erschienen war. So beschlossen sie denn, die Kapelle hier unten zu errichten. Und später, als die Leute Geld gesammelt hatten, wurde an ihrer Stelle eine schöne Wallfahrtskirche erstellt.

Es kam aber wiederholt vor, dass gewaltige Wasser die Kirche bedrohten. Ja einmal brachte der Bach so viel Geschiebe daher, dass die Steine ins Innere der Kirche drangen und sogar ein gewaltiger Felsklotz herabgeschwemmt wurde, den die Bauern vor dem Hauptportal wegräumen mussten. Bei alledem blieben aber trotz ständiger Gefahr Altar und Marienbild unbeschädigt.

Als dann aber im Jahre 1914 so viele Steine vom Wildbach herabgebracht wurden, dass sie den Vorhof der Kirche bis zu dem Mäuerchen füllten, beschloss der Pfarrer, eine starke Stützmauer gegen die Wasser anlegen zu lassen. Auch bei dieser letzten Gefahr war die Kirche unversehrt geblieben.

So lautet die Legende von der Wallfahrtskirche von Sementina, wie sie mir von der alten Bäuerin erzählt wurde.

 

Am Kaminfeuer der Tessiner                                                              

Walter Keller                                                                                          

Hans Feuz Verlag Bern

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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