Das Haldentier in Aarau

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Der älteste Stadttheil von Aarau führt als enger Bergweg vom Flussbette zur Kirche herauf; seine Häuser bestehen meist aus dem Ringmauern und Ueberresten der Burg Rore, welche laut Urkunden bis ins Jahr 1337 hier als Freiung gestanden hat. Diesen Theil nennt man die Halde. Hier vertrat einem in früherer Zeit ein Unthier nachts den Weg. Sein Kopf soll das ganze Stadtthor ausgefüllt haben. Augen hatte es wie die runden Laternengläser einer Kutsche, sein Schwanz reichte vom Stadtthore beim Hause zum Adler die ganze Gasse hinab. Rosse, die alsdann gleichzeitig dieses Weges kamen, liessen sich nicht vom Flecke bringen; besonders aber gegen Schlemmer, die erst um Mitternacht die Schenken räumen, übte es eine scharfe Polizei. Jetzt dient es, wie sein Kamerad, der Hokenmann, nur noch dazu, vergessliche Kinder mit dem Abendläuten rechtzeitig von der Gasse ins Haus zu nöthigen. Man meint, es wohne besonders in den Felsen, auf denen die Stadtkirche steht. In dieses Gestein habe ein Reicher seine Schätze durch einen armen Taglöhner vergraben lassen, letzterer aber widerstand der Versuchung nicht lange, grub nachher einen grossen Theil davon wieder aus und tödtete sich, als sein Gewissen ihn plagte. Deshalb meinte man noch vor etlichen dreissig Jahren jedesmal in diesem Felsen ein Pickeln zu hören, als ob man Steine mit einem Zweispitz behaue, so oft sich die Witterung ändern wollte.

Als sich im vorigen Jahrhundert der erste Lärmen über den Anmarsch der Neufranken verbreitete, lagerte eine Truppe Basler-Soldaten hier in der Stadt, um Thor und Brücke zu hüten. Da soll das Haldenthier mit seiner Erscheinung einen solchen Schrecken unter die kleine Besatzung gebracht haben, daß man sie mit Gewalt und Strafe zum weitern Wachtdienst anhalten musste.

Aus den Erinnerungen, die sich in einer Aarauer-Familie vererbt haben, mögen hier noch einige Ergänzungen folgen.

Das grosse Felsengewölbe, auf dem die Aarauer Kirche steht, heisst das Rollenloch. Oben nisten verflogene Tauben drinnen, unten aber liegen alle kleinen Kinder, welche in Zukunft einmal geboren werden sollen. Aus einer grösseren Felsenspalte floss vor Zeiten ein Bächlein und hat sich dann in die Abzugsröhren verloren, als man den tiefer unten stehenden Haldenbrunnen errichtete. Aus der gleichen Felsenritze pflegte auch das Haldenthier herauszukommen; bald war's ein Hund, bald ein Kalb und Drache; immer aber waren seine Augen in der Grösse von Fleischtellern oder Pflugrädern, sie sprühten, wie wenn der Schmied das frisch glühende Eisen hämmert. Es zeigt sich als Vorbote drohender Gefahren, auch so oft ein Bürger hingerichtet werden sollte. Dann gieng es an der Halde hinunter die Schindbrücke vorbei durch das Thor der Gollaten-Mattgasse bis vors Haus des Scharfrichters zu dem viereckigen Stein, der da noch zu sehen ist. Dabei hoolte (rief, lockte) es mit der rührendsten Stimme. Als die Städter im Jahre 1798 sich von der Berner-Regierung lossagten und darüber eine kleine Belagerung zu bestehen hatten, feuerten sie mit ein paar Kanonen auch von jenem Felsen neben der Kirche gegen den Feind. Darüber soll das Bächlein drinnen versiegt und damit zugleich das Haldenthier verschwunden sein. Neuerlich bemerkte ein Einwohner in seiner untenher angebauten Holzscheune Wasser, und man schloss daraus, das Haldenthier werde ebenfalls bald wieder erscheinen.

Quelle: Ernst L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 2, Aarau, 1856

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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