Das Oerkentier

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Wenn man von Frick her durch das Juratal zu dem Benken hinauf geht, einem älteren Bergpasse nach Aarau, während der neuere die Staffelegg ist, so stellt sich drunten im ziemlich breiten Tale zuerst der sogenannte Alteberg entgegen, dessen Eichen erst in diesen Jahren zu Eisenbahnschwellen ausgehauen worden sind. Der Berg teilt das Thal in zwar kleinere Hälften. Das zur rechten, in welchem die beiden Dörfer Wittnau und Kienberg liegen, wird von einem Quellbache, der Sissel, durchflossen, der von dem Passe der Schafmatt herabkommt. Das andere Tälchen links geht enge zwischen waldigen Höhen hinauf über Wölfliswil und Oberhofen zum Benken, wo eine andere Quelle der Sissel entspringt und bald zu dem beträchtlichen Oerkenbache wird. So weit dieser hinabfliesst, bis zu seiner Einmündung in den Wittnauer Bach, haust an und in ihm das Oerkentier, der Geist eines schwedischen Soldaten aus dem dreissigjährigen Kriege. An der Stelle, wo ihn die Bauern erschlugen, steht noch ein niederes moosbedecktes Steinkreuz am Strassenrande im Acker, das der Pflug schon halb schief gelegt hat. Ein paar hundert Schritte linksab vom Bache hat der Geist seine Wohnung. Hier ist eine Höhle, in die noch vor wenig Jahren eine Steintreppe hinabgeführt haben soll; auch lag bis auf die letzten vier Jahre hier vor dem Eingange ein Nagelfluhblock von der Grösse eines Heuwagens, nun hat ihn der Besitzer der anstossenden Wiese gesprengt. Auf diesem Block stand das Oerkentier, wenn die Wittnauer in der Kreuzwoche die Kirche von Wölfliswil besuchten, und liest es dann den Ruf Hop hop! hören, so hatte man sicher kein günstiges Frühlingswetter zu erwarten. Dasselbe tat es auf seinem andern Standpunkte, einer Halde am Altenberge. Da rief es aus der Waldung den Wittnauer Burschen zu, die nachts vom Wölfliswiler Kirchweihtanz heimgingen: antworteten sie dann mit dem gleichen Rufe in der Meinung, es möchten ihre vorausgeeilten Kameraden sein, so kamen sie gewiss nicht anders als mit geschwollenen Köpfen heim. Das Oerkentier erscheint in der Gestalt eines riesigen Wildenmannes, aber auch als Ochse, als Zottelhund und Dachs.

So hat es ein Bauer noch vor etwa siebenzig Jahren kennen gelernt. Damals war das Fricktal noch österreichisch, und seine Verkehrsmittel an Straßen, Posten und Boten mochten beinahe noch in urweltlichem Zustande sein. Kam einmal ein Brief ins Dorf zur Weiterbeförderung, so gab es da keinen bestellten Briefboten, sondern die Hofbauern mussten der Reihe nach das Schreiben ins Nachbardorf tragen, und dort begann dann abermals die Frage, wer von da weg den Fetzen Papier weiter zu liefern habe. So kam eines Abends ein Brief ins Dorf Wittnau, der noch nach Wölfliswil hinauf gebracht werden sollte, und derjenige der Bauern, an welchem diesmal die Reihe war, machte sich damit auf den Weg. Für jeden Notfall nahm er den Waldhammer mit, der jedem in Gemeindegeschäften über Land Gehenden vom Ammann zur Verfügung gestellt wurde. Schon im Hinwege hatte der Bauer längs des Oerken ein schwarzes Tier bemerkt, als er den Rückmarsch machte, sprang dasselbe am gleichen Orte wieder über die Strasse hart an ihm vorbei. Der Bauer hieb mutig mit dem Beile darnach und es blieb auf der Stelle liegen. Bei näherer Betrachtung war es ein fetter Dachs, den er sogleich in die Rocktasche steckte und heimwärts trug. Aber die Last machte sich ganz unerträglich schwer, schweisstriefend kam der Mann damit an sein Haus. Hier mit einem Male war er von dem Gefühle seiner Überlast frei und da er drinnen den Dachs aus der Tasche ziehen wollte, war sie leer. Jetzt da ihm der Gedanke an das Oerkentier mit einem Male aufstieg, wurde sein Entsetzen darüber so gross, daß er nach kurzer Zeit starb. 

Seit jener Begebenheit spotten die Nachbarorte über die Wittnauer und deren grosse Rocktaschen; letztere, heisst es, seien so gross, dass man in der rechten den Waldhammer und die Massflasche, in der linken aber den Laib Brod ohne viel Aufsehen mit tragen könne. Dieser eigentümlich zugeschnittene Frack aus blauem Leinzeug mit den grossen Taschen ist nun der neuen Mode gewichen; jedoch nur deshalb, behauptet der Nachbarwitz, weil die Wittnauer ihr altes Rockmass, das in der Gemeindelade aufbewahrt worden sei, sammt dieser Lade selbst in der französischen Revolutionszeit 1790 verloren hätten.

Quelle: Ernst L. Rochholz, Naturmythen, Neue Schweizer Sagen,Band 3.1,  Leipzig 1962,       

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung www.maerchenstiftung.ch

 

 

 

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