Die Schneekönigin

Land: Frankreich
Region: Lothringen
Kategorie: Zaubermärchen

Es waren Eltern, die hatten zwei Kinder, den Karl und das Gretel. Es war hoher Winter und schneite. Grosse Flocken fielen, und die Kinder hatten Pläsier und schrieen: „Mutter, schau, Sterne!”
Gegen Abend kam eine grosse Flocke ans Fenster geflogen, schaute herein, lachte die Kinder an. Da sagte die Mutter: „Das ist die Schneekönigin, ihr Kinder, nehmt euch in Acht vor dieser!”
Unten in der Strasse spielten die anderen Kinder, warfen Schneebälle, fuhren Schlitten und riefen: „Kommt, spielt auch mit uns!” Karl wäre gern auf die Strasse gegangen. Die Mutter aber sagte: „Nein, bleibe da, denn es geht schon auf die Nacht zu. Dass mir keines fortgeht!”
Und die Flocken tanzten wieder vor dem Fenster, und die Schneekönigin war dabei, lachte und winkte, sie sollten kommen. Die Mutter war in der Küche, und Karl sagte zu der Schwester: „Ich gehe doch!” Das Gretel sagte: „Gehe nicht, bleibe da!” Und Karl, die Pelzkappe auf dem Kopf, den Cachenez (grosses Halstuch) um sich herum gewickelt, und hinunter zu den anderen Kindern und Schneeball geworfen und immer dem Gretel gewinkt: „Komm, komm auch!” Das Gretel den Kopf geschüttelt, es käme nicht.
Nun spielten und lachten die Kinder und machten so fort, bis in die Nacht hinein. Karl dachte, er wolle noch nicht heimgehen. Er nahm seinen Schlitten, ging oben zur Stadt hinaus, und es schneite immer mehr. Nun dachte er: „Ich will jetzt aber doch heimgehen!” Und wie er heimgehen will, kommt eine grosse Frau (Madame), weisser Pelz, weisser Mantel, weisse Pelzkappe, und lacht: „Komm, setze dich in meinen Schlitten, ich fahre dich heim.”
Karl setzte sich auf den Schlitten und sie mit dem Schlitten los, zur Stadt hinaus. Karl gefiel es gut auf dem Schlitten, und sie übers Feld und in den Wald! Dann sagte Karl: „Ja, wo geht Ihr denn hin? Ich will ja heim!” Da antwortete sie: „Komm nur mit, ich führe dich in mein Schloss, es wird dir gefallen!” Karl wurde es kalt, er fror und war hungrig. Sie aber ging fort mit ihm.
Nun, zu Hause: Karl ist fort! Das Gretel fing an zu heulen, und die Mutter sagte: „Karl ist fort! Er kam noch nicht wieder.” Dann fing auch die Mutter an zu weinen: „Gelt, er ging fort, er folgte mir nicht! Den hat die Schneekönigin geholt.” Sie suchten nach ihm, sie fanden ihn nicht mehr. Verschwunden!
Das Gretel sagte: „Mutter, ich gehe fort, ihn zu suchen.” „Um Gottes Willen, Kind, du findest ihn nicht! Die Schneekönigin hat ihn geholt!”
Das Gretel, den anderen Morgen aufgestanden, zu Morgen gegessen, die Schuhe angezogen, ein Halstuch um sich herum: „Mutter, ich gehe fort, den Karl zu suchen, und ich komme nicht, oder ich habe ihn!” Da sagte die Mutter: „Gehe und bringe mir ihn heim!”
Das Gretel ging fort, zur Stadt hinaus. Der Wind ging schneidig kalt. Es aber ging tapfer drauflos, übers Feld, in den Wald und ging und ging, brach im Schnee unter, bekam kalte Hände, Tränen liefen ihm aus den Augen und immer rief es: „Karl, Karl!” Die Nacht kam, und es wurde müde und schläfrig und hungrig. Es ass sein Stück trockenes Brot, setzte sich hinter einen Tannenbaum und dachte, da wolle es schlafen. Dann betete es sein Nachtgebetchen und dachte, den anderen Morgen wolle es den Bruder weiter suchen und wolle nicht ruhen und nicht rasten, bis es ihn gefunden hätte. „Und ich suche und ich finde ihn!” So schlief das Gretel ein.
Am nächsten Morgen erwachte es und: wieder fort, ihn zu suchen. Es fürchtete sich mitunter im Wald, denn da räusperte sich etwas und dort. Dann schaute es und rief und ging so immerfort, drei Tage lang. Am dritten Tag sah es abends ein helles Glitzern und war an dem Schloss der Schneekönigin. Da rief es: „Karl, Karl! Wo bist du? Das Gretel ist da!” Da kam die Schneekönigin: „Gelt, du bist es, Gretel”, sagte sie, „du kommst, Karl zu holen? Komm herein, du kannst auch da bleiben. Karl gefällt es gut.” Das Gretel fror, war ganz blau im Gesicht, und in dem Schloss war eine Eiseskälte.
Die Eiskönigin sagte: „Komm, ich will dir deinen Bruder zeigen. Er liegt im Bett.” Da führte sie das Gretel an ein Schneebett, in dem Karl lag, halb tot, mit ganz blauem Gesicht. Es hauchte ihn an, es rief ihn: „Karl, Karl, ich bin da, das Gretel, deine Schwester, wache auf, wir gehen nach Hause.” Es schüttelte ihn, er wollte aber nicht aufwachen. Endlich machte er die Augen auf und sagte: „Gretel, mir ist es kalt, ich will heim.”
„Ja, warum bist du fort zu der bösen Schneekönigin?”
Die Königin kam und sagte: „Wollt ihr nicht da bleiben bei mir? Es ist doch so schön!” Da antwortete das Gretel: „Nein, wir wollen fort von dir, wir wollen zu unserer Mutter, denn du bist ja so böse.” Daraufhin lachte die Schneekönigin und sagte: „Ja, ich hole alle bösen Kinder! Aber weil‘s Gretel so brav war, dürft ihr nun doch heim, nur müsst ihr weit, weit laufen! Wenn ihr nun heimgeht, dann nicht herüber und hinüber schauen und euch bei nichts aufhalten.”
Die Kinder nahmen sich an der Hand, und sie winkte ihnen zu: „Adieu, ihr Kinder, auf Wiedersehn!” Das Gretel schaute noch einmal herum. Da sah es, wie das Eisschloss verging. Es wurde immer kleiner, wurde zu Wasser, und der Schneekönigin flossen Tränen aus den Augen. Endlich war alles verschwunden. Die Kinder gingen drei Tage lang durch den Wald, und als sie zu ihrem Heimatort kamen, war schon der Frühling da. Blümchen und grünes Gras kamen aus dem Boden.
Sie sahen ihre Heimatstadt, liefen, was sie konnten, liefen durch die Gassen, nichts als heim, die Treppe hinauf, die Tür auf: „Mutter, Mutter, da sind wir!” Da hatte die Mutter ein Pläsier! „O, mein Karl, mein Karl!” Und Karl sagte: „Niemals mehr lasse ich mich locken von dieser bösen Königin.”

 

Aus: Wintermärchen aus aller Welt, Mutabor Verlag 2018

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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