Der Ochse baut eine Hütte

Land: Estland
Kategorie: Fabel/Tiermärchen

Einmal im Herbst graste ein Ochse auf einer Wiese am Waldrand. Auf einmal kam ein Wolf herangeschlichen. Er fletschte die Zähne und sagte: «Du kommst mir gerade recht, jetzt fresse ich dich.»
Der Ochse schaute den Wolf an und sagte: «Tut mir leid, Wolf, das geht jetzt nicht. Ich will mir erst eine Hütte bauen. Wenn sie fertig ist, kannst du meinetwegen kommen, dann werden wir sehen, wer von uns beiden der Stärkere ist.»
Der Wolf war einverstanden und ging fort.
Der Ochse aber überlegte, wie er nun am schnellsten eine Hütte bauen könnte. Er begann, Bäume zu fällen, und schnaufte dabei laut.
Das hörte ein Schwein und kam neugierig näher. «Was machst du da, Ochse?»
«Ich will eine Hütte bauen, du kannst mir helfen und im Winter bei mir wohnen.»
«Oink, oink, nein», sagte das Schwein, «ich brauche keine Hütte. Im Winter suche ich mir einfach eine Kuhle zum Schlafen.»
Schwer schnaufend legte der Ochse die Baumstämme aufeinander. Das hörte ein Ziegenbock. Er kam näher und fragte: «Was machst du da, Ochse?»
«Ich will eine Hütte bauen, du kannst mir helfen und im Winter bei mir wohnen.»
«Bäh, bäh, nein», sagte der Ziegenbock, «ich brauche keine Hütte. Im Winter lege ich mich einfach in den Schnee.»
So arbeitete der Ochse alleine weiter. Mühsam stemmte er die Hölzer für das Dach in die Höhe und stöhnte dabei.
Das hörte eine Gans und kam neugierig näher: «Was machst du da, Ochse?»
«Ich will eine Hütte bauen, du kannst mir helfen und im Winter bei mir wohnen.»
«Schnatter, schnatter, nein, ich brauche deine Hütte nicht», meinte die Gans. «Im Winter krieche ich einfach unter einen Baum.»
Der Ochse war nun mit dem Dach fertig und stopfte unter lautem Schnaufen Moos in alle Ritzen.
Das hörte ein Hahn. Neugierig kam er
näher und fragte: «Was machst du da, Ochse?»
«Ich will eine Hütte bauen, du kannst mir helfen und im Winter bei mir wohnen.»
«Kiki, kikeriki, ich brauche deine Hütte nicht», sagte der Hahn. «Wenn es kalt wird, fliege ich einfach unter einen Busch.»
Endlich war die Hütte fertig. Es war auch höchste Zeit, denn der Herbst hatte schon alle Blätter von den Bäumen geweht. Als der erste Schnee kam und es draussen bitterkalt wurde, war es in der Hütte des Ochsen gemütlich und warm.
Das Schwein fror bald ganz jämmerlich in seiner Kuhle. Es ging zur Hütte des Ochsen, klopfte an und sagte: «Oink, oink, bitte, lieber Ochse, lass mich herein, ich friere so schrecklich.»
Der Ochse öffnete und sagte: «Du hast mir zwar nicht geholfen beim Hüttebauen, aber du sollst nicht frieren, komm herein.»
Der Ziegenbock zitterte im Schnee vor Kälte. Er ging zur Hütte des Ochsen und klopfte an: «Bitte, Ochse, lass mich in deine Hütte, ich zittere vor Kälte.»
Der Ochse öffnete die Tür und sagte: «Auch du hast mir zwar nicht geholfen beim Hüttebauen, aber du sollst nicht frieren, komm herein.»
Kaum war der Ziegenbock drinnen, klopfte es schon wieder, und draussen hörte man eine Stimme rufen: «Schnatter, schnatter, lieber Ochse, bitte lass mich rein, mir ist so kalt.»
Auch die Gans wurde in die Hütte gelassen, und bald hörte man ein Kratzen und Krächzen an der Tür. Der Ochse öffnete, und draussen stand der Hahn: «Kiki, kikeriki, bitte lass mich rein, ich friere so.»
Der Ochse erwiderte: «Du hast mir zwar nicht geholfen beim Hüttebauen, aber du sollst nicht frieren, komm herein.»
Nun war es eng in der Hütte, aber dafür schön warm, und bald schliefen die Tiere zufrieden ein.
In der Nacht aber lief der Wolf hungrig um die Hütte herum.
Er heulte und rief: «Ochse, komm heraus, ich habe Hunger und will dich fressen!»
Der Ochse öffnete die Tür einen Spalt und sagte: «Nun gut, komm herein und lass uns sehen, wer von uns stärker ist.»
Der Wolf, der nicht wusste, wer alles in der Hütte war, ging hinein. Kaum war er drin, trat das Schwein den Wolf und biss ihn in den Hintern. Der Ziegenbock ging auf ihn los und rammte ihm seine Hörner in den Bauch. Die Gans schnappte nach dem Wolfsschwanz und zerrte daran, während der Hahn sich auf den Kopf des Wolfes setzte und sich an seinen Ohren festkrallte.
«Au, au, auu!», schrie der Wolf, «ich gebe auf und komme nie mehr wieder.»
Da öffnete der Ochse die Tür, und der Wolf lief hinaus in den Schnee und kam nie wieder.
Der Ochse, das Schwein, der Ziegenbock, die Gans und der Hahn blieben den ganzen Winter in der Hütte und hatten es gut. Aber im Jahr darauf wollten sie vom Ochsen lernen, wie man eine Hütte baut. Ob er es ihnen wohl verraten hat?

Fassung D. Jaenike,nach: R. Viidalepp, Estnische Volksmärchen, Berlin 1980. Erschienen in der Zeitschrift Märchenforum Nr. 103

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