Taubenliebe

Land: Albanien
Kategorie: Zaubermärchen

Es war einmal eine Prinzessin, die wollte immer nur in ihrem Zimmer sitzen. Sie hatte keine Freundin, mochte nicht in den Garten gehen, sondern sass immer nur da und schaute zum Fenster hinaus, den Tauben zu, die dort vorbeiflogen. Der König und  die Königin wollten die Prinzessin überreden eine Reise zu machen, aber sie sagte: „Nein, ich habe keine Lust.“ Sie wollten junge Mädchen einladen und ein Fest geben, aber wieder sagte die Prinzessin: „Nein, ich will nicht.“

So vergingen die Jahre und aus der Prinzessin wurde eine junge hübsche Frau. Einmal ging die Königin zu ihr ins Zimmer und sprach: „Liebe Tochter, da es dir bei uns scheinbar nicht so gut gefällt, haben wir einen schönen Prinzen für dich ausgesucht. Den kannst du heiraten und dann in sein Schloss gehen. Vielleicht gefällt es dir dort besser.“

Aber die Prinzessin rief: „Ich heirate nicht!“. Sie schloss die Tür zu ihrem Zimmer, setze sich auf den Stuhl und schaute zum Fenster hinaus. Da kam eine Taube auf den Fenstersims geflogen. Die Prinzessin streichelte über die weichen Federn, und die Taube sprach: „Liebe Prinzessin, wenn du mich lieb hast, dann stelle morgen ein Schälchen mit Milch auf den Fenstersims.“

Die Prinzessin versprach es und die Taube flog davon. Am nächsten Tag stellte sie das Schälchen mit Milch bereit und wartete. Bald flogen zwölf Tauben vorbei. Die zwölfte badete ihre Federn in der Milch und wurde zu einem schönen jungen Mann. Er gefiel der Prinzessin so gut, dass sie ihn gleich umarmte und küsste.

Er sprach: „Ich bin ein verzauberter Prinz und wenn du mich wirklich lieb hast und mich erlösen willst, darfst du drei Jahre lang niemanden verraten, wer ich bin.“

Er nahm der Mann zwei Ringe hervor, die waren beide genau gleich. Einen schenkte er der Prinzessin, den anderen zog er an seinen Finger. Dann tauchte er seine Hände in die Milch, verwandelte sich wieder in eine Taube und flog davon. Von diesem Tag an, kam die Taube jeden Tag zu ihr, badete in der Milch und verwandelte sich in einen jungen Mann. Die Prinzessin hielt ihr Versprechen und verriet niemandem etwas davon.  Doch einmal sagte die Königin: „Jetzt aber musst du heiraten! Du kannst nicht immer in deinem Zimmer sitzen!“

Da antwortete das Mädchen: «Ach Mutter, ich habe doch schon einen Liebsten, er ist in eine Taube verwandelt.»

Von diesem Tag an kam die Taube nicht mehr und Prinzessin weinte vom Morgen bis zum Abend. Schliesslich sagte sie: „Lasst mir drei Paar Schuhe und einen Wanderstock aus Eisen machen. Ich will in die Welt hinauswandern und meinen Liebsten suchen.“

Sie wanderte drei Jahre lang in der Welt umher und fragte überall: „Habt ihr vielleicht zwölf Tauben gesehen?“, aber niemand konnte ihr weiterhelfen. So kehrte sie noch trauriger zurück und sprach: „Vater, lass ein grosses Badehaus bauen. Dort dürfen alle Menschen ein Bad nehmen, wenn sie mir vorher eine Geschichte erzählen, damit ich meinen Kummer vergesse.“

Der König liess das Badehaus bauen und bald kamen Menschen von überall her und erzählten der Prinzessin eine Geschichte.

Nicht weit vom Palast wohnte eine arme Frau mit ihrer Tochter. „Bitte Mutter“, sagte diese, „lass mich auch ins Badehaus gehen.“

„Nun gut, aber hole mir erst Wasser von der Quelle.“

Die Tochter nahm einen Eimer und ging zur Quelle. Dort sah sie einen Hahn, der hatte Pantoffeln  an den Füssen und trug einen Korb mit sich herum. Es sah wie er zu einem Haus ging, dort eine Schale mit Milch füllte und daraufhin zwölf Tauben geflogen kamen. Sie badeten in der Milch und verwandelten sich in junge Männer, nur die zwölfte nicht.

„Siehst du“, sagten die Männer zu der Taube, „hätte die Prinzessin das Geheimnis nicht ausgeplaudert, so wärst du erlöst.“

Das Mädchen eilte davon, sie vergass der Mutter das Wasser zu bringen und ging gleich zum Schloss der Prinzessin, denn sie konnte es kaum erwarten, ihre Geschichte zu erzählen. Endlich kam sie an die Reihe.

„Ich weiss eine schöne Geschichte“, sagte sie und erzählte alles, was sie gesehen hatte.

„Führe mich zu diesem Haus!“, sagte die Prinzessin und die junge Frau führte sie hin. Die Prinzessin wartete. Dann sah sie die zwölf Tauben herbeifliegen. Sie badeten in der Milch und elf verwandelten sich in junge Männer. Nur die zwölfte Taube sass abseits. Da sprang die Prinzessin auf, umarmte die Taube, diese warf ihre Federn ab,  verwandelte sich in den jungen Prinzen und war nun endlich erlöst. Was war das für eine Freude!

Es gab ein grosses Fest, die ganze Stadt feierte mit und wenn die Prinzessin früher so traurig und einsam war, so lebt sie jetzt glücklich und zufrieden bis auf den heutigen Tag.

Fassung Djamila Jaenike, nach: J. G. von Hahn, Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin 1918.

 

The princess and the Dove

Once upon a time there was a princess who only ever wanted to sit in her room. She didn't have a friend, didn't want to go into the garden, but always just sat there and looked out of the window at the doves flying past. The king and queen tried to persuade the princess to go on a trip, but she said: "No, I don't feel like it." They wanted to invite young girls and throw a party, but again the princess said, "No, I don't want to."

So the years passed and the princess became a beautiful young woman. Once the queen went into her room and said: "Dear daughter, as you don't seem to like it so much with us, we have chosen a handsome prince for you. You can marry him and then go to his castle. Maybe you'll like it better there."

But the princess shouted: "I'm not getting married!". She closed the door to her room, sat down on the chair and looked out of the window. A dove flew onto the windowsill. The princess stroked soft feathers and the dove spoke: "Dear princess, if you love me, put a bowl of milk on the windowsill tomorrow."

The princess promised and the dove flew away. The next day, she put the bowl of milk out and waited. Soon twelve doves flew by. The twelfth bathed its feathers in the milk and grew into a handsome young man. The princess liked him so much that she immediately embraced and kissed him.

He said: "I am an enchanted prince and if you really love me and want to redeem me, you must not tell anyone who I am for three years."

The man took out two rings, both of which were exactly the same. He gave one to the princess and put the other on his finger. Then he dipped his hands in the milk, turned back into a dove and flew away. From that day on, the dove came to her every day, bathed in the milk and turned into a young man. The princess kept her promise and told no one.  But once the queen said: "But now you have to get married! You can't always sit in your room!"

The girl replied: "Oh mother, I already have a sweetheart, he's turned into a dove."

From that day on, the dove stopped coming and Princess cried from morning till night. Finally she said: "Let me make three pairs of shoes and a walking stick out of iron. I will go out into the world and look for my beloved."

She wandered around the world for three years and asked everywhere: "Have you seen twelve doves?", but no one could help her. So she returned even sadder and said: "Father, have a big bathhouse built. All people can take a bath there if they tell me a story first so that I forget my sorrow."

The king had the bathhouse built and soon people were coming from all over to tell the princess a story.

Not far from the palace lived a poor woman with her daughter. "Please mother," she said, "let me go to the bathhouse too."

"Very well, but first fetch me some water from the spring."

The daughter took a bucket and went to the spring. There she saw a rooster with slippers on his feet and carrying a basket. She saw him go to a house, fill a bowl with milk and then twelve doves flew in. They bathed in the milk and turned into young men, except for the twelfth.

"You see," said the men to the dove, "if the princess hadn't revealed the secret, you would have been saved."

The girl hurried away, forgetting to bring her mother the water, and went straight to the princess's castle, for she could hardly wait to tell her story. At last, it was her turn.

"I know a beautiful story," she said and told everything she had seen.

"Take me to this house," said the princess and the young woman led her there. The princess waited. Then she saw the twelve doves fly in. They bathed in the milk and eleven turned into young men. Only the twelfth dove sat apart. Then the princess jumped up, embraced the dove, it threw off its feathers, turned into the young prince and was finally redeemed. What a joy that was!

There was a great feast, the whole town joined in the celebrations and if the princess was once so sad and lonely, she now lives happily and contentedly to this day.

Version by Djamila Jaenike, based on:  J. G. von Hahn, Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin 1918. translated by L. Jaenike, © Mutabor Märchenstiftung

Albanien ist ein kleines Land (rund anderthalbmal kleiner als die Schweiz) und gehört zum Balkan. Es liegt im Südosten Europas gegenüber von Italien, an der Adria und dem Ionischen Meer. Es ist eines der ärmsten Länder Europas. Die Infrastruktur des Landes ist schwach, die Arbeitslosenquote hoch, die Löhne tief, die Perspektiven für junge Menschen und Familien trist. Die Auswanderung begann mit dem Zusammenbruch des Kommunismus Anfang der 1990er Jahre. Davor war das Land jahrzehntelang diktatorisch regiert und von der Aussenwelt isoliert. Das heutige, demokratische Albanien hat eine der höchsten Auswanderungsquoten der Welt. In den vergangenen 30 Jahren haben etwa eine Million Menschen das Land verlassen. 

 

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