Der geheimnisvolle Alte

Land: Bosnien und Herzegowina
Kategorie: Zaubermärchen

Es lebten einmal drei Brüder, die teilten nach dem Tod des Vaters ihr Erbe auf. Die beiden älteren waren schon verheiratet, setzten ihren Erbteil klug ein und kamen so zu gutem Wohlstand. Dem jüngsten[FR1]  aber floss seit jeher das Geld nur so aus den Händen, und nicht lange, da war er verarmt. Und weil er dazu auch noch faul war, wollten auch die Brüder ihm nicht mehr helfen. Also dachte der junge Mann: «Ich werde in die Welt hinausgehen und sehen, ob ich jemanden finde, der mir helfen kann.»

Lange ging er, bis er auf einen Berg kam. Dort sah er einen alten Mann, der Kräuter sammelte. Der junge Mann grüsste ihn, doch der Alte arbeitete schweigend weiter.

Weil der junge Mann nicht wusste, wohin er gehen sollte, folgte er dem Alten, bis sie am Abend zu einer Hütte kamen. Der Alte führte ihn hinein, teilte sein Brot mit ihm und zeigte ihm schweigend, wo er sich in der Nacht zum Schlafen hinlegen sollte.

Um Mitternacht wachte der junge Mann auf, weil er eine Stimme hörte. Sie schien aus der Erde zu kommen und sagte: «In dieser Nacht sind tausend Kinder geboren.»

Daraufhin hörte der junge Mann den Alten antworten: «Ihr Schicksal soll sein wie in dieser Nacht.»

Am nächsten Morgen folgte der junge Mann dem Alten auf seiner Suche nach Kräutern. Als es dunkel wurde, kamen sie zu einem Haus. Der Alte führte ihn hinein, teilte Suppe und Brot mit ihm und zeigte ihm das Bett, in dem er schlafen sollte.

Um Mitternacht aber hörte man die gleiche Stimme, die rief, wieviel Kinder geboren waren, und der Alte antwortete wieder: «Ihr Schicksal soll sein wie in dieser Nacht.»

Auch am nächsten Tag folgte der junge Mann dem Alten auf der Kräutersuche. Abends kamen sie zu einem prächtigen Haus. Diener bewirteten sie und wiesen ihnen ein Bett zu. Auch in dieser Nacht hörte man eine Stimme und den Alten, der sprach: «Ihr Schicksal soll sein wie in dieser Nacht.»

Am nächsten Morgen sprach ihn der Alte an und sagte: «Drei Tage und drei Nächte bist du mir gefolgt, nun sollst du mir deine Geschichte erzählen.» Der junge Mann erzählte alles, und daraufhin sprach der Alte: «Ich gebe dir folgenden Rat: Geh nach Hause, und heirate die Magd deiner Brüder, denn sie ist in einer Nacht wie der vergangenen geboren, und ein gutes Schicksal wartet auf sie. Du hingegen bist in einer Nacht wie der ersten geboren, dein Schicksal ist die Armut. Heirate sie, und du wirst glücklich und reich sein. Doch denke daran: Wenn dich jemand fragt, so sage immer: Alles gehört meiner Frau.»

Der junge Mann bedankte sich für den Rat und machte sich auf den Heimweg. Er bat die Brüder, die Magd heiraten zu dürfen, und sie willigten ein. Sie bauten dem jungen Paar ein schönes Haus und schenkten ihm ein gutes Feld für die Weizensaat.

Fleissig machte sich der junge Mann an die Arbeit und begann, das Feld zu pflügen. Nicht lange, da stiess er mit dem Pflug an einen Topf voller Gold. Glücklich kauften er und seine Frau weitere Felder dazu, und bald schon konnten sie über ihre reichen Weizenfelder schauen. Zur Zeit der Ernte war der junge Mann zusammen mit Erntehelfern dabei, die goldenen Garben zu binden. Da kam auf einmal ein alter Mann vorbei und fragte: «Wem gehören das Haus und die grossen Weizenfelder?»

«Das gehört alles mir!», rief der junge Mann stolz.

Kaum hatte er die Worte gesagt, kam ein Wind auf, wirbelte die Garben durcheinander und drohte, das Dach vom Haus abzudecken. Schnell rief der junge Mann: «Es gehört alles Habibti, meiner Frau!»

Da legte sich der Wind. Der Alte lächelte und ging davon. Der junge Mann aber vergass nie mehr, dass er sein gutes Schicksal seiner Frau verdankte – und dem Rat des weisen Alten. 

Fassung D. Jaenike, aus: J. Schütz, Jugoslawische Märchen, Frankfurt a. M. 1972 ©Mutabor Märchenstiftung

The mysterious old man

Once upon a time, there were three brothers who divided their inheritance after their father's death. The two older ones were already married, used their inheritance wisely and became very wealthy. The youngest, however, had always let money slip through his fingers, and it wasn't long before he was impoverished. And because he was also lazy, his brothers no longer wanted to help him. So the young man thought: "I'll go out into the world and see if I can find someone who can help me."

He walked for a long time until he came to a mountain. There he saw an old man collecting herbs. The young man greeted him, but the old man continued to work in silence.

Not knowing where to go, the young man followed the old man until they came to a hut in the evening. The old man led him inside, shared his bread with him and silently showed him where he should lie down to sleep that night.

At midnight, the young man woke up because he heard a voice. It seemed to come from the earth and said: "A thousand children were born that night".

The young man then heard the old man reply: "Their fate shall be like this night."

The next morning, the young man followed the old man on his search for herbs. When it got dark, they came to a house. The old man led him inside, shared soup and bread with him and showed him the bed where he was to sleep.

At midnight, however, the same voice was heard calling out how many children had been born and the old man replied again: "Your fate shall be as it was that night."

The next day, too, the young man followed the old man in search of herbs. In the evening they came to a splendid house. Servants entertained them and assigned them a bed. That night, too, a voice was heard and the old man said: "Your fate shall be as it was that night."

The next morning, the old man approached him and said: "You have followed me for three days and three nights, now tell me your story." The young man told everything and then the old man said: "I give you this advice: go home and marry the maid of your brothers, for she was born on a night like last night and a good fate awaits her. You, on the other hand, were born on a night like the first, and your fate is poverty. Marry her and you will be happy and rich. But remember: if anyone asks you, always say: everything belongs to my wife."

The young man thanked him for his advice and made his way home. He asked the brothers to marry the maid and they agreed. They built the young couple a beautiful house and gave them a good field for the wheat seed.

The young man set to work diligently and began to plow the field. Before long, he came across a pot of gold with his plow. Happily, he and his wife bought more fields and soon they could look out over their rich wheat fields. At harvest time, the young man was tying the golden sheaves together with the harvest workers. Suddenly, an old man came by and asked: "Who owns the house and the large wheat fields?"

"It's all mine!" the young man shouted proudly.

No sooner had he said the words than a wind came up, whirled the sheaves around and threatened to cover the roof of the house. The young man quickly shouted: "It all belongs to Habibti, my wife!"

Then the wind died down. The old man smiled and walked away. But the young man never forgot that he owed his good fortune to his wife - and to the wise old man's advice. 

Fassung D. Jaenike, aus: J. Schütz, Jugoslawische Märchen, Frankfurt a. M. 1972, englische Fassung L. Jaenike ©Mutabor Märchenstiftung,

Bosnien-Herzegowina besteht in seiner heutigen Form seit dem Dayton-Abkommen von 1995 aus dem nördlichen Bosnien und der südlichen Herzegowina. Nur ein schmaler Streifen, der Neum-Korridor, grenzt auf der Balkanhalbinsel an das Meer. Nach dem Austritt aus dem jugoslawischen Staatsverband 1990 folgte 1992 der dreijährige Bosnienkrieg mit bis heute ungelösten Konflikten. Mehr als zwei Millionen Menschen sind auf der Flucht, hinzu kommen zwei Millionen Binnenflüchtlinge. Der Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur kommt nur schleppend voran. Arbeitslosigkeit und mangelnde medizinische Versorgung prägen das Leben.

 

 

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