Wie der Sohn dem Vater verzieh

Land: Albanien
Kategorie: Novelle

Man erzählt sich, dass man vor langer Zeit die Menschen, wenn sie alt wurden, zum Wasser führte und sie ertrinken liess. So geschah es beim Urgrossvater, beim Grossvater und als der Vater alt wurde, so musste auch der Sohn den Alten zum Wasser bringen. So lebte einmal ein Sohn mit seiner Familie in einer Hütte nah am Meer. Die Grossmutter war schon lange gestorben, aber der Grossvater lebte gemeinsam mit dem Sohn, dessen Frau und dem Enkel im Haus. Lange war der Grossvater noch rüstig und half, wo er konnte. Doch als er kaum noch gehen konnte, sagte der Sohn: «Komm, Vater, es ist Zeit, dass ich dich zum Meer bringe.»

Der Sohn stützte den Vater auf dem Weg zum Wasser. Als sie oben auf dem Hügel standen, wo nach alter Tradition der Sohn den Vater ins Meer stürzen sollte, sagte der Alte: «Warte, mein Sohn, höre mich an. Schau, auch ich habe meinen Vater hierhergebracht und ins Meer gestossen. Und mein Vater hat seinen Vater zum Wasser geführt.  Auch dein Sohn wird dies einmal tun und ich frage dich, willst du das wirklich?»

Der junge Mann war lange Zeit still und überlegte, dann sagte er: «Was du getan hast, war schlimm. Aber du hast mich davor bewahrt, ebenfalls etwas Schlimmes zu tun. Deshalb will ich dir verzeihen, damit von nun an niemand mehr in dieser Familie auf diese Art sterben muss.»

An diesem Tag kehrten die beiden ins Dorf zurück. Die Leute kamen und wollten wissen, was geschehen war und hörten die Geschichte. Sie erzählten sie weiter, und diese erzählten sie wieder weiter, und von da an durften die alten Menschen bis zu ihrem Lebensende glücklich im Kreis ihrer Familien bleiben.

Fassung Djamila Jaenike, nach: J.U. Jarník, Albanesische Märchen und Schwänke, in: Zeitschrift für Volkskunde in Sage und Märchen, Band 2, Leipzig 1890, unter dem Titel «Der Sohn verzieh dem Vater».

How the son forgave his father

It is said that a long time ago, when people grew old, they were taken to the water and left to drown. This happened with the great-grandfather, the grandfather and when the father grew old, the son also had to take the old man to the water. A son once lived with his family in a hut near the sea. The grandmother had long since died, but the grandfather lived in the house with the son, his wife and the grandson. For a long time, the grandfather was still sprightly and helped wherever he could. But when he could barely walk, the son said: "Come on, father, it's time I took you to the sea."

The son supported his father on the way to the water. As they stood at the top of the hill where, according to the old tradition, the son was to throw his father into the sea, the old man said: "Wait, my son, listen to me. Look, I also brought my father here and pushed him into the sea. And my father took his father to the water.  Your son will also do this one day and I ask you, do you really want to?"

The young man was silent for a long time and thought about it, then he said: "What you did was bad. But you saved me from doing something bad too. That's why I want to forgive you, so that from now on no one in this family has to die like that again."

That day, the two returned to the village. The people came and wanted to know what had happened and heard the story. They passed it on, and they passed it on again, and from then on the old people were allowed to stay happily with their families until the end of their lives.

© translated by L. Jaenike, version by Djamila Jaenike, based on:  J.U. Jarník, Albanesische Märchen und Schwänke, in: Zeitschrift für Volkskunde in Sage und Märchen, Band 2, Leipzig 1890, unter dem Titel «Der Sohn verzieh dem Vater».

Albanien ist ein kleines Land (rund anderthalbmal kleiner als die Schweiz) und gehört zum Balkan. Es liegt im Südosten Europas gegenüber von Italien, an der Adria und dem Ionischen Meer. Es ist eines der ärmsten Länder Europas. Die Infrastruktur des Landes ist schwach, die Arbeitslosenquote hoch, die Löhne tief, die Perspektiven für junge Menschen und Familien trist. Die Auswanderung begann mit dem Zusammenbruch des Kommunismus Anfang der 1990er Jahre. Davor war das Land jahrzehntelang diktatorisch regiert und von der Aussenwelt isoliert. Das heutige, demokratische Albanien hat eine der höchsten Auswanderungsquoten der Welt. In den vergangenen 30 Jahren haben etwa eine Million Menschen das Land verlassen. 

 

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