Die weisse Seerose

Land: Vereinigte Staaten
Region: Nordamerika, Objibwa
Kategorie: Mythe/ätiologisches Märchen

Als die Kriegstrommeln noch nicht durch das Land wirbelten, stand am Rande der Prärie das schöne Dorf der Odschibwa. Seine Männer kehrten allabendlich mit reicher Jagdbeute heim, die Frauen besorgten den Haushalt, und die Kinder spielten den ganzen Tag. Nirgendwo konnte es zufriedenere Menschen geben. Die Sonne weilte von früh bis spät am Himmel und lachte auf die roten Menschen herab. Es regnete nur, wenn es Zeit war, die Brunnen, Flüsse und Blumen mit Wasser zu versorgen.

Aber einmal geschah etwas Aussergewöhnliches! Die Sterne, die Nacht für Nacht über dem Lager funkelten, hatten die Siedlung entdeckt, und weil ihre Lämpchen so klein waren, dass ihr Licht nicht bis zur Erde hinabreichte, bestürmten sie ihren Häuptling so lange mit Bitten, bis er ihnen erlaubte, das Dorf aufzusuchen.

Der Häuptling des nächtlichen Himmels war der Mond, und der sah es gar nicht gerne, wenn seine Untertanen in der Welt herumstreunten und erst mit dem Morgenstern schlafen gingen; denn das trug ihm immer Scherereien mit der Sonne ein. Aber an jenem Abend war er zufällig gut aufgelegt, und so gab er ihren Bitten nach.

Die Sterne sagten es einer dem anderen, sie lachten und tanzten vor Freude und hörten kaum hin, als ihnen der Mond beim Abschied noch seine Ratschläge mit auf den Weg gab: «Ihr könnt gehen, wohin ihr wollt, hütet euch aber, die Erde zu berühren, denn dann könntet ihr nie wieder zurück. Am folgenden Tag würde euch die Sonne mit ihren Strahlen, die den Sternen den Tod bringen, verbrennen.»

Die Sterne hatten einen langen, langen Weg vor sich.

Zum Glück war damals gerade Vollmond, sonst hätten sie sich bestimmt verirrt. Endlich kamen sie wohlbehalten über dem Dorf an und beäugten es von allen Seiten.

Die Menschen lagen in tiefem Schlaf und hatten nicht die leiseste Ahnung davon, was über ihnen vorging. Nur ein kleiner Junge, der weit draussen am Lagerrand wohnte, konnte lange nicht einschlafen. Da hörte er ein seltsames Raunen über sich. Er hob den Kopf und lauschte.

Schliesslich lugte er zu der Dachöffnung hinaus, und was er sah, verschlug ihm den Atem. So viele, viele Sterne und so nahe! Er kletterte bis an die höchste Stelle des Wigwams hinauf und schob eine Stange beiseite, um besser sehen zu können. Bum! Die Stange war irgendwo angestossen. Der kleinste und neugierigste Stern war nämlich gerade über den hohen Wigwam geflogen, als der Junge an der Stange rührte. Stern und Stange stiessen aneinander, und der Stern stürzte auf die Erde. Kaum hatte er den Boden berührt, verwandelte er sich in ein schönes, bitterlich weinendes Mädchen.

«Weisst du, was du angestellt hast?», sagte es vorwurfsvoll zu dem Jungen. «Jetzt kann ich nicht mehr zu meinen Sternengeschwistern zurück, und wenn es Tag wird, werden mich die Sonnenstrahlen finden und töten!»

Der Junge sah das Mädchen staunend an. Die übrigen Sterne hatten inzwischen bemerkt, was geschehen war, und flohen Hals über Kopf nach Hause. Sie wussten, dass ihre Gefährtin für immer verloren war.

Dem Mädchen strömten die Tränen über das Gesicht. Der Junge empfand tiefes Mitleid mit ihr. Wie gerne hätte er ihr geholfen!

«Ich weiss, was ich mache», sagte er endlich. «Bevor es Tag wird und die Sonne aufgeht, schliesse ich den Wigwam und verstecke dich unter meiner Decke. Dort kann sie dich nicht finden. Aber was soll dann weiter geschehen?»

«Wenn ich den ersten Tag überlebe, verwandle ich mich in der nächsten Nacht in eine Blume. Ich werde auf einem hohen Felsen leben und euch von dort aus immer sehen können. Mir gefällt es bei euch Menschen.»

Und sie taten, wie sie es sich vorgenommen hatten. Der Junge blieb im Wigwam und sorgte dafür, dass nicht einmal der allerneugierigste Sonnenstrahl ins Innere dringen konnte. Als der Tag zur Neige ging, schlüpfte das Mädchen durch den Rauchabzug hinaus und eilte auf einen hohen Felsen. Und dort erblühte am folgenden Tag eine herrliche weisse Rose.

Die Menschen bestaunten aus der Ferne ihre Schönheit, und nur der Junge wusste, dass dies der Stern war, den er in seinem Wigwam vor den Sonnenstrahlen behütet hatte.

Es dauerte nicht lange, und das Mädchen fühlte sich auf seinem Felsen einsam und verlassen. Es hatte zwar einen weiten Ausblick in die Gegend und konnte auch das Leben im Lager beobachten, aber wer hätte schon auf die steile Felsenklippe klettern mögen, um seine Gedanken mit ihr auszutauschen? Nur die Vögel, die in der Nähe nisteten, kamen manchmal, um ihr die Zeit zu vertreiben. Einmal besuchte sie ein Zaunkönig. «Ich habe Sehnsucht nach den Menschen», klagte die weisse Rose. «Wie schön müsste es sein, in der Prärie zu wohnen.»

«Ich will dir helfen», sprach der kleine Vogel. «Neige nur deinen Kopf ein wenig zu mir herüber, damit ich dich in meinen Schnabel nehmen kann.»

Die Rose neigte ihm gehorsam ihre Blüte zu. Der Zaunkönig nahm sie in seinen Schnabel und flog damit in die Prärie.

Dort gefiel es der Rose viel besser. Da kamen Menschen und allerlei Tiere vorbei und erzählten ihr, was sich in der Welt zugetragen hatte. Eines Morgens hörten sie aus der Ferne ein dumpfes Dröhnen. «O weh!», riefen alle. «Die Büffel kommen!»

Jeder schützte seinen Kopf so gut er konnte. Auch die Rose wurde von namenloser Angst ergriffen, sie verbarg das Köpfchen unter ihren schreckensstarren Blättern und lauschte dem Dröhnen von Tausenden Hufen, die wie der Sturmwind vorüberjagten.

Endlich wurde es still. Vor Angst bebend lugte die Rose aus ihrem Versteck und – ach! Die ganze Prärie war niedergetrampelt, nirgends mehr war eine Spur von Leben zu sehen.

«Soll ich hier bleiben und mich nochmals einer solchen Gefahr aussetzen?», überlegte die Rose. «Am sichersten und wohlsten würde ich mich auf dem Wasser eines Sees fühlen.»

Sie löste sich von der Erde und sah nicht weit von dem Lager den Wasserspiegel eines Sees glänzen. Geräuschlos wie die Kanus glitt sie auf das Wasser.

Am nächsten Morgen fuhren die Menschen auf den See hinaus. Da sahen sie, dass der sonst glatte Wasserspiegel mit wunderschönen weissen Blüten übersät war.

«Die Nachtsterne sind aufgeblüht», sagten die kleinen Kinder.

Aber die weisen Männer wussten es besser: «Der weisse Stern ist gekommen, um mit uns zu leben.»

Seither lebt der Stern als weisse Seerose auf dem Wasserspiegel der Seen.

 

Aus: D. Jaenike, Blumenmärchen aus aller Welt, Mutabor Verlag

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch   

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