Das siebenfarbige Pferd

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Gianign war ein armer Bursche, der hatte niemanden mehr. Er galt als sehr mutig, und als er hörte, dass man auf dem Weg durch einen grossen Wald in eine Stadt gelangt, beschloss er, dorthin aufzubrechen, um sein Glück zu suchen. Einen ganzen Tag lang ging er und kam am Abend todmüde zu einem kleinen Haus. Darin wohnte ein altes Männlein. Der Bursche trat ein und bat, übernachten zu dürfen. Doch der Alte sagte: «Du kehrst lieber wieder um und gehst nach Hause zurück, deine Eltern werden sich Sorgen um dich machen.» Der Bursche entgegnete: «Ich habe keine Eltern mehr, und nach mir fragt niemand.» So behielt ihn der Mann bei sich und gab ihm auch ein Abendessen Doch dann sagte er: «Um bei mir zu übernachten, braucht es Mut, denn es geschehen hier allerlei Dinge.» Doch Gianign liess sich nicht einschüchtern.

Der Alte war der Wärter eines Schlosses, wo seit Jahren niemand mehr gewohnt hatte. Bevor er sich schlafen legte, machte er jeden Abend einen Rundgang durch alle Zimmer, um sicher zu sein, dass nicht etwa ein Dieb sich darin versteckt hatte. Vor allem in den Kellergeschossen waren Kostbarkeiten aufgehäuft: goldene und silberne Münzen, Edelsteine, wunderschöne Stoffe, kostbare Teppiche und noch andere schöne Sachen. Er nahm auch Gianign mit, der musste mit der Laterne voraus. Sie durchquerten riesige finstere Gänge, und von allen Seiten liefen unheimliche Ratten daher, doch Gianign liess sich von nichts Angst machen. Er staunte nur über all diese Reichtümer. In einer Kellerecke sah er ein Gerippe mit einem Licht darin. Doch Gianign war ein aufgeweckter Bursche und merkte schnell, wozu jenes gut sein sollte. Er dachte: «Diebe lassen sich vielleicht erschrecken, ich aber nicht.» Und nach dem Rundgang durch alle Zimmer gingen sie schlafen.

Am nächsten Tag führte der Alte Gianign in den Stall hinunter und sagte: «Du kannst eines dieser Pferde haben, damit du früher am Ziel bist, nimm, welches du willst. Es waren dort wunderschöne Pferde, Schimmel, braune und schwarze. Zuhinterst im Stall sah er ein gestreiftes Pferd, das gefiel ihm noch besser als die andern. «Kann ich dieses haben?» fragte er. «Ja, du kannst es haben», antwortete der Alte, «doch hast du gesehen, dass es siebenfarbig ist? Man nennt es das "Glückspferd", und dazu gehören noch ein Schwert und eine Mütze, die innen rot ist. Wenn du das Rot nach aussen kehrst, verwandelst du dich in einen Krieger in Rüstung, mit dem Schwert in der Hand. Doch sobald du die Mütze mit dem Rot nach innen trägst, bist du ein einfacher Wanderer mit einem Stock statt des Schwerts in der Hand. Wenn ich dir raten kann, setzest du die Reise als einfacher Mann fort, dann brauchst du die Diebe nicht zu fürchten.» Dann gab er ihm noch ein paar Goldstücke, damit er auf seiner Reise das Notwendige kaufen konnte. Gianign dankte dem Alten und ritt dann glücklich auf seinem gestreiften Pferd in Richtung Stadt. Das Pferd lief so schnell wie der Wind, und Gianign musste sich mit aller Kraft an dessen Hals und Zaumzeug festhalten. So ging es im vollen Galopp durch den dichten Wald. Und schliesslich gelangte er in die Stadt. Alle Häuser waren bekränzt, Fahnen flatterten, und auf Plätzen und Strassen waren viele Leute. Es fanden grosse Feiern zu Ehren des Königs statt, mit Rennen, Zweikämpfen und andern Unterhaltungen. Auf seinem Pferd überblickte er das alles und staunte nicht schlecht, denn solche Dinge hatte er nie gesehen, noch je davon gehört. Während er sich herumtrieb, hörte er sagen, der König beabsichtige, die Hand seiner Tochter jenem Krieger zu geben, der bei diesen Wettkämpfen am besten abschneide. Nachdem er recht lange zugeschaut hatte, dachte Gianign: «Wer weiss, ob ich auch mein Glück versuchen und bei den Rennen mitmachen soll?» Er zog sich wieder etwas Richtung Wald zurück, wo es keine Leute hatte, kehrte seine Mütze um und verwandelte sich in einen Ritter. Dann stellte er sich mit den andern Rittern in die Reihe, gab seinem Pferd die Sporen, und wie ein Pfeil durchlief jenes die Rennstrecke, und er kam als einer der ersten an. Das gab ihm Mut, auch bei den Schwertkämpfen mitzumachen. Er hatte die Kämpfe der andern mit Aufmerksamkeit verfolgt, und in seinem Schwert schien eine Zauberkraft zu sein, so dass er auch damit grossen Erfolg hatte. Am Abend versammelten sich alle Teilnehmer im Königsschloss, und dort wurde ein ganz feines Abendessen mit ganz feinen Weinen aufgetragen. Es waren dort auch schöne junge Frauen in weissen Kleidern dabei, nämlich die Hoffräulein der Prinzessin. Gianign erkundigte sich, welches die Königstochter sei, und man antwortete ihm: «Siehst du denn nicht, das ist die Schönste der Schönen.»- «Wie kannst du dir nur vorstellen, die Königstochter zu heiraten, du, der du nichts hast?!» dachte Gianign. «Du hattest wohl Erfolg bei allen Spielen und Unterhaltungen, doch woher schöne Geschenke nehmen, um sie der Prinzessin zu überreichen, wie es der Brauch ist?» Die junge Frau hätte unserm Gianign überaus gut gefallen, sie war schön und anmutig; doch woher die Geschenke nehmen? Das bereitete ihm Kopfzerbrechen.

Da näherte sich der König, der die Kämpfe und Wettrennen mit Interesse verfolgt hatte. Er wollte den Namen des jungen Kriegers wissen, und woher er sei. «Ich komme aus einem weit entfernten Land», sagte Gianign, «aus einem Land mit grossen Reichtümern, viel Gold und Edelsteinen, und wo es Gerippe gibt, die nachts leuchten.» Und um dem König zu beweisen, dass er die Wahrheit sagte, nahm er aus der Rocktasche die Handvoll Goldstücke, die der Alte ihm gegeben hatte Der König war ziemlich alt und sehnte sich danach, die Sorgen, die das Herrschen über ein ganzes Volk mit sich bringt, bald auf jüngere Schultern legen zu können. Der Bursche gefiel ihm, und er liess sich von seiner Erzählung von den grossen Reichtümern ein wenig blenden. So wurde beschlossen, dass Gianign in sein Land gehen und dann mit den Gaben für die Prinzessin zurückkommen werde, wie es der Brauch ist.

Und Gianign bestieg sein gestreiftes Pferd und ritt wieder Richtung Wald. Der Alte war nicht wenig erstaunt, als er ihn kommen sah, und noch mehr, als er seine Geschichte hörte. Da der Schlossherr sich seit Jahren nicht mehr gezeigt hatte, nahm der Alte an, dass er wahrscheinlich unterdessen gestorben war. Zudem fühlte er, dass auch er nicht mehr lange leben sollte, da liess er sich vom Wunsch des Burschen überzeugen. Die ganze Ware wurde auf Wagen geladen und von bewaffneten Männern begleitet. Man fuhr zur Stadt, wo die Feiern verlängert worden waren, um den jungen Mann mit den Gaben für die Prinzessin zu erwarten. Und wenig später machten sie Hochzeit, und eine wunderschöne Hochzeit war es, das kann ich euch sagen.

(Oberengadin

 

Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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