Die Herrin Madrisa

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Es war einmal ein junger Jäger, der verirrte sich eines Tages auf der Jagd in einem dichten Wald, und er konnte nicht mehr heimkehren. Während er den richtigen Weg bald auf der einen, bald auf der andern Seite suchte, wurde es Nacht, und der Bursche sah durch die Bäume hindurch von weitem ein Licht schimmern. Er näherte sich diesem vorsichtig und entdeckte eine schöne Lichtung mitten im Wald und ein Haus, an welches er sich nicht erinnerte, es je in seinem Leben gesehen zu haben. «Wie auch immer», dachte er, «wenn du nur für diese Nacht ein Dach über dem Kopf hast, so werden dir die Bewohner morgen den Heimweg wohl zeigen können.» Und er trat ein und fand hier ein Mädchen, das er um Unterkunft bat. Dieses zeigte sich ein wenig überrascht über sein Kommen und antwortete ihm, sie hätten es nicht gerade sehr bequem, doch wenn er damit zufrieden sei, so könne er wohl hier übernachten, und sie versprach ihm auf seinen Wunsch, am Morgen den Weg aus dem Dickicht zu zeigen. Nach dem Abendessen gab ihm das Mädchen ein Licht und führte ihn in ein kleines Zimmer mit einem Bett. Sobald er allein war, schaute er sich vor dem Einschlafen genauer um und entdeckte zu seinem riesigen Erstaunen ein nur durch einen einfachen Vorhang getrenntes zweites Zimmerchen, darin schlief ein schönes Mädchen tief und fest. Ihre goldblonden Haare hingen wie Seide offen neben der Bettstatt herunter. Er konnte nicht anders, als ihre Haare aufheben, und er weckte so ungewollt das schöne Mädchen. Der Bursche entschuldigte sich und beruhigte sie, indem er ihr seine Abenteuer vom vergangenen Tag erzählte, und sie sagte ihm, sie sei sehr müde von einer langen Reise gewesen und habe einen Augenblick ausruhen wollen. «Seid Ihr denn nicht hier zu Hause?» fragte der Jäger. «Nein», antwortete das Mädchen, «ich stehe im Dienst meiner Herrin Madrisa, die ist sehr streng und lässt mich jede Nacht herumstreifen, von abends in der Dämmerung bis zum Tagesanbruch.» Ein Wort gab das andere, und ihre Unterhaltung wurde immer vertraulicher. Der junge Jäger verstand es, in kurzer Zeit das Herz des schönen blonden Mädchens zu gewinnen, und sie verlobten sich. Erst dann vertraute ihm das Mädchen an, sie sei die Tochter eines Fürsten, eine böse Person habe sie vor zwei Jahren verzaubert, und sie müsse drei Jahre lang der Herrin Madrisa dienen. Weiterhin erfuhr der erstaunte Bräutigam, dass sie seither die Ihren nie habe sehen können, und dass diese sie gewiss für verirrt oder geraubt hielten, doch am Ende des dritten Jahres ihrer Sklaverei könne sie zu ihrem Vater zurück. Plaudernd und herzend verbrachten die jungen Verliebten die wenigen Stunden, und ehe es tagte, musste das Mädchen rasch und unerwartet aufbrechen, so dass der Herr Bräutigam nicht einmal Gelegenheit hatte, sich über den Aufenthaltsort ihrer strengen Herrin zu erkundigen. Am Morgen fand er dank der Wirtin glücklich wieder den rechten Weg und gelangte nach Hause. Doch Ruhe hatte er keine mehr. Sein Gewissen plagte ihn. All seine Nachforschungen blieben erfolglos. Monate vergingen. Aus dem jungen, schönen Jäger war ein armer Griesgram geworden, unzufrieden mit der Welt und mit sich selbst.

Da schickten ihn am Ende die Seinen in die Welt hinaus auf die Suche nach der Herrin Madrisa, um ihn vor dem Untergang zu retten. Nun reiste er Wochen und Wochen im ganzen Land herum, doch niemand wollte etwas von einer Herrin Madrisa wissen. Als er eines Abends müde an einen einsamen Ort gelangt war, kehrte er in einer Herberge bei drei Mädchen ein. Von diesen erfuhr er endlich, dass die Herrin Madrisa auf einem Berg in der Nähe zu Hause sei. Welche Erleichterung für den guten Jäger! Auf seine Fragen vernahm er weiter, dass das Mädchen mit den blonden Haaren jetzt bald von seinem schweren Dienst frei sei und dass sie am nächsten Morgen sicher für einen Augenblick zu ihnen auf Besuch kommen werde. Was für ein Trost endlich! Gutgelaunt ging unser Jäger an jenem Abend schlafen und war am Morgen bei Tagesanbruch auf den Beinen. Er konnte seine grosse Freude schlecht verbergen, was denn auch schwere Folgen für ihn hatte. Der junge Wanderer, der sich seit seiner Ankunft so vorteilhaft verändert hatte, beeindruckte die drei jungen Wirtinnen stark. Sie boten ihm nach dem Morgenessen ein Gläschen Anislikör an, das er gerne annahm. Der Ärmste! Dem Anislikör hatten sie nämlich tüchtig Schlafmittel beigemischt, so dass er bald am Tisch fest einschlief. Nun kam seine Braut und fand ihn in diesem Zustand. Sie war nicht im Stand, ihn aufzuwecken und band unzufrieden ein seidenes Taschentuch um seine rechte Hand. Welche Verzweiflung, als er zu sich kam, das Taschentuch erkannte und das Vorgefallene erfuhr! All sein Weinen und Klagen half nichts. Die Wirtinnen jedoch waren befriedigt und trösteten ihn damit, dass das Mädchen am nächsten Tag wieder kommen werde. So wartete er in grosser Aufregung. Der Tag war lang, und noch länger schien ihm die Nacht. Wieder boten ihm die drei schlechten Weiber am andern Tag einige gute Liköre zum Morgenessen an. Und wieder schlief er wie am Vortag ein, und beim Erwachen fand er am Mittelfinger seiner linken Hand einen schönen Goldring seiner Braut. Neue Verzweiflung und neue bittere Selbstvorwürfe konnten an seiner Lage nichts ändern.

Die drei schlauen Weiber teilten ihm mit, das von ihm so sehr geliebte Mädchen werde auch noch am Morgen des dritten Tages zu ihnen auf Besuch kommen, was ihn erneut hoffen liess. Doch am dritten Tag ging es ihm nicht besser als zuvor. Auf den Butterkuchen, seine Lieblingsspeise, hatten sie Schlafmittel gestreut! Dieses Mal hinterliess ihm die Braut eine Haarlocke, die sie zur Erinnerung um seinen linken Arm band. Nun war sie verschwunden und kam nicht mehr; da ihre Dienstzeit abgelaufen war, war sie auf das Schloss ihres Vaters gegangen. Während sich dieser mächtig freute, wusste der arme Bursche nicht, was anfangen, so fürchterlich verzweifelt war er. Nichts vermochte ihn mehr zu trösten, so dass die drei Betrügerinnen von ihrem Neid und ihrer Eifersucht nichts hatten. Traurig und verzagt setzte unser Jäger seine Wanderschaft fort und entschloss sich bald einmal, seine Suche völlig aufzugeben, sich an einen unbekannten Ort zurückzuziehen und seine Tage als Einsiedler zu verbringen.

Nach langem Suchen fand er einen völlig abgeschiedenen Ort mitten in einem riesigen Wald, baute sich dort eine Hütte, lebte monatelang von Wild und kleidete sich mit den Fellen seiner Beute. Der Zufall wollte es, dass ihn eines schönen Tages gerade die Jäger jenes Königs entdeckten, welcher der Vater seiner Braut war. Da sie ihn für einen Wilden hielten, packten sie den Mann und führten ihn aufs Schloss, um ihn ihren Gefährten und ihrem Herrn zu zeigen. Der Bursche leistete keinen Widerstand und schämte sich nicht, zum Gespött der Gäste des Königs geworden zu sein. Es vergingen wiederum Wochen, wo er zwar recht behandelt wurde, doch man liess ihn so verwildert, wie er gefunden worden war, dies zur Belustigung der zahlreichen Schlossbesucher. Alles ging ihn in seinem Verschlag ansehen.

Nur die Tochter des Königs, die seit ihrer Rückkehr immer traurig war, wollte auch von diesem Vergnügen nichts wissen. Eines Tages jedoch, als sie allein an der Hütte vorbeiging, wo der seltsame Einsiedler sich befand, guckte sie durchs Tor und tat einen wahrhaften Satz, als sie ihren Ring am Finger des Wilden bemerkte. Da ging sie zu ihm hinein und gab sich zu erkennen. Da umarmten und küssten sich die Liebenden nach so vielen harten Qualen, und zum Glück sah sie niemand. - Ihr Gemüt heiterte sich wieder auf, ihre Traurigkeit verging, und dies fiel sogleich auch dem König auf, denn er hatte nichts mehr tun können, um die Tochter aufzumuntern. Auch er war glücklich, als er das Mädchen wie eine Rose aufblühen sah und ihr Lachen und Singen hörte. Das ganze Schloss schien wie neu geworden zu sein und sich mit der Tochter des Herrn zu freuen. Unter solchen Umständen wunderte sich niemand, wenn sie oft längere Zeit lachend beim Einsiedler verbrachte, welcher in jenen Augenblicken ihr sicher auch erzählte, wie die drei Wirtinnen ihn übertölpelt hatten, und seine Braut wird ihm den Rat gegeben haben: «Von Frauen, die du nicht kennst, darfst du nie Geschenke annehmen!»

Vorläufig blieb der Einsiedler das, was er war und vertraute auf die List seiner Braut. Es ging nicht lange, bis der König gegenüber seiner einzigen Tochter den Wunsch äusserte, sie solle sich nun bald, um ihr Glück voll zu machen, einen Mann aussuchen. Da antwortete die Tochter: «Wenn mir einer kommt, der mir drei Geschenke anbietet, die mir gefallen, und er dazu nett aussieht, dem soll meine Hand gehören.» Der Vater zögerte nicht, den Entschluss seiner Tochter bekannt zu machen, und er setzte den Tag an, an dem die Geschenke von den Bewerbern selber überreicht werden konnten. Das war ein grosser Festtag im Schloss und im Park. Auf einem Balkon über dem Tor hatte sich die Tochter vor ihrem Tisch aufgestellt. Daneben sass der König, und ihr gegenüber die jungen Bewerber; einer nach dem andern wurden sie eingeladen, sich zu setzen und ihre Gaben zu zeigen. Viele waren schon erhobenen Hauptes die Treppe hochgegangen und ganz kleinlaut zurückgekommen, und die Diener und Freunde des Königs machten dazu über jeden ihre nicht immer schmeichelhaften Bemerkungen. - Da kommt der Einsiedler aus seiner Höhle, in seine zerrissenen Felle gehüllt, und geht zur allgemeinen Überraschung auch Richtung Schlosstor. Er erscheint auf dem Balkon und setzt sich, und ein gewaltiges Hallo schallt durch den Garten. Der König, dem das übermütige Spiel der Tochter mit den Söhnen der vornehmsten Edelleute schon viel zu denken gegeben hat, lächelt ebenfalls beim Erscheinen seines Wilden, denn auch er hält dies für einen von seiner Tochter ersonnenen Scherz. Doch der Einsiedler macht heute eine ernste Miene; er breitet seine Geschenke aus: ein seidenes Taschentuch, einen Goldring und eine goldene Haarlocke. Das Mädchen schaut sie tatsächlich an und übergibt sie zur genaueren Prüfung ihrem Vater. Dann erklärt sie mit fester Stimme, diese Geschenke seien die einzigen, die ihr gefielen, denn der Ring und das Taschentuch trügen ihren Namen und die Locke stamme von ihrem Haar. Allgemeine Überraschung; der Vater macht grosse Augen und versteht nicht, wie der Einsiedler in den Besitz dieser wertvollen Gegenstände gekommen ist. Doch die Tochter reisst jetzt plötzlich dem Wilden die Lumpen weg, und siehe da! Der schönste, wie ein Prinz gekleidete junge Mann kommt daraus hervor, reicht ihr die Hand und umarmt und küsst sie als seine Braut. Da verwandelt sich die allgemeine Verwunderung in Freude und Beifall. Die Brautleute und der Vater ziehen sich vom Balkon ins Schloss zurück; dort werden sie dem Alten all ihre Abenteuer erzählt haben; das herbeigeströmte Volk wird mit Speise und Trank bewirtet, und alles feiert. Am nächsten Tag wird mit noch grösserer Pracht Hochzeit gemacht, und die neuen Eheleute nehmen vom ganzen Königsgut Besitz und leben glücklich, und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie sicher heute noch.

(Unterengadin)

 

Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.  

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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