Wanderung nach Einsiedeln

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Einst hütete ein Knabe zu Compadiels die Ziegen an einer Steinhalde des Pic Gliems. Wie nun seine Tiere weideten oder umher sprangen, saß er auf einem Stein und dachte, wie er so lieber in die Kirche gegangen wäre, anstatt Geißen zu hüten, und ließ seinen Wunsch laut werden, »aber es ist zu weit«. »O nein«, sprach leise eine Stimme hinter ihm. Erschrocken wendete der Knabe sich um und sah einen Jungen seines Alters hinter ihm stehen, der sagte weiter: »Wenn du in die Kirche willst, so komm nur mit mir, eben läutets in Einsiedlen zum Amte, wir kommen noch recht.« – »Ja ich will gerne, aber die Geißen?« »Die laufen nicht weg, komm, es läutet bald aus.«

Die beiden gingen, und der von Compadiels betrat eine ganz unbekannte Gegend. Noch keine fünf Minuten waren sie gegangen, als sie vor dem schönen Stiftsgebäude in Einsiedlen anlangten. Sie wohnten dem Amte bei, gingen dann im Orte herum, und unser Compadielser, der sein Lebtag solche Herrlichkeiten nie gesehen, konnte sich nicht satt sehen. Er verlor seinen Gefährten, so war er in Gedanken vertieft.

Die untergehende Sonne mußte ihn an den Heimweg mahnen; es wurde ihm bange, wie er ohne den Kameraden den Rückweg finden möge, ratlos stand er da und jammerte.

Wiederum stand der fremde Junge hinter ihm und tröstete ihn: »Komm nur«, nahm ihn bei der Hand, und führte ihn in Zeit von fünf Minuten von Einsiedlen wieder an die steile Halde ob Compadiels, wo die Ziegen alle noch gemütlich weideten.

Der fremde Junge verschwand aber vor den Augen des Andern, und dieser Letztere ging nun nichts lieber als Geißhüten an der Halde, von wo er durch den Fremden nach Einsiedlen geführt wurde, so oft er zur Kirche wollte.

Trotz der frommen Gesinnung schlich sich aber nun auch Gewinnsucht in die Seele des Hirtenknaben, und der wollte sich durch List das Selbstfinden des Weges nach dem Stifte aneignen, um auch Kameraden auf demselben dorthin zu geleiten, ohne Hülfe des Fremden, und in der Absicht, dadurch Geld sich zu verdienen. Er nahm einstens zum Zwecke, den Weg sicher zu finden, kleine Holzstücke mit, die er von Zeit zu Zeit in die Erde steckte.

Sein Führer merkte die Absicht und führte ihn lange im Gebirge herum, ließ ihn hoch auf einem Berge sitzen und verschwand. Der Verlassene hatte drei Tage zu gehen, bis er diesmal wieder daheim war, und mit dem nach Einsiedlen wandern war's für immer aus.


Quelle: Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 3-5.

 

 

 

    

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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