Merkwürdige Erlebnisse eines Königssohnes

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

In einem Land, weit, weit weg von hier, lebte einst ein König, der hatte zwei Söhne. Der ältere hieß Luigino und war vierundzwanzig, der jüngere hieß Giovanni oder Hans und war achtzehn Jahre alt. Weil sie aber daheim nicht im Frieden auskamen, beschlossen sie, sich vom Vater Geld geben zu lassen und dann in die Welt hinauszuziehen. Und so geschah es auch.

Eines Morgens nahmen sie Reisegeld und allerhand Wertsachen mit sich und machten sich zusammen auf den Weg. Und als die Sonne unterging, kamen sie an eine Stelle, wo die Straße sich in zwei Richtungen teilte. Da sprach Hans zu seinem älteren Bruder: «Weißt du, was wir jetzt machen wollen? Du gehst diesen Fußweg zur Linken und ich diesen Weg zur Rechten, denn wenn wir miteinander wandern, so bringen wir es zu nichts. Aber du musst mir versprechen, dass wir uns in zwei Jahren hier wieder treffen. Und dann wollen wir schauen, wer von uns beiden es bis dann zu größerem Reichtum gebracht hat.»

Nach zwei Jahren trat Luigino, weil er furchtsamer und weniger unternehmungslustig als sein jüngerer Bruder war, wieder den Heimweg an und kehrte arm zu seinem Elternhaus zurück. Hans dagegen, als der schlauere und mutigere von beiden, begann seine Laufbahn mit viel Glück.

Er war ein leidenschaftlicher Jäger und bemerkte eines Tages auf der Jagd eine Schar wilder Tauben, die fröhlich bald da, bald dorthin flogen. Schon zielte er mit seinem Gewehr auf sie, sah jedoch nicht, dass hinter seinem Rücken ein Mann stand, der ihn daran hinderte, den Schuss gegen die hübschen Tiere abzufeuern. Der Fremde versicherte ihm, er besitze so viel Geschick, dass er imstande sei, die Tauben schön und lebendig herabfallen zu lassen. Und wirklich, er brauchte nur die Hand langsam empor zu halten und wieder sinken zu lassen, so lagen die Tauben lebend zu Hansens Füßen. Voller Verwunderung fragte er jenen Mann, wie er denn heiße: «Magnet ist mein Name», antwortete der andere.

Da anerbot er ihm einen Franken als Lohn und den Lebensunterhalt, wenn er mit ihm ziehen wolle. Der Fremde nahm den Vorschlag an, und sie setzten selbander ihren Weg fort, brauchten auch nicht in Sorgen zu sein, denn alle Tage machten sie reichliche Jagdbeute.

Eines Tages gerieten sie beim Verfolgen der Tiere immer weiter in einen dichten Wald; denn sie fanden dort eine Menge Wild. Da sahen sie einen Mann, der trug eine Mütze, auf deren Schirm ein Pistolenlauf befestigt war, und so oft er sich umdrehte, ging ein Schuss los. Als Hans bemerkte, wie er in kurzer Zeit viel Wild erlegte, ging er auf ihn zu und fragte ihn: «Aber sag doch, wie heißest du?»
«Kanonier oder Meister Bumm, wie mich die Leute oft nennen», erwiderte der andere. Und Hans fuhr fort: «Willst du mit mir kommen? Ich gebe dir einen Franken im Tag und zu essen.» Der andere war es zufrieden. und sie zogen zu dritt ihres Weges weiter. Hatten sie Hunger und wollten Wildbret essen, so brachte Magnet das Tier mit einer bloßen Handbewegung zum Stehen, und Meister Bumm tötete es.

Einmal erblickten sie nicht weit weg von ihnen eine Gruppe armseliger Häuser. Sie gingen darauf zu, um sich ein wenig auszuruhen und etwas zu essen. Da bemerkten sie jedoch, dass alle Bewohner des Ortes ihre Habseligkeiten flüchteten. Jetzt erst entdeckten sie zu ihrem Erstaunen einen Mann, der im Begriffe stand. den Berg oberhalb des Dörfchens festzuhalten. Sie schritten auf ihn zu, und Hans fragte ihn: «Ja, was machst du da eigentlich?» «Da, den Berg muss ich aufhalten, denn er will herunterkollern», gab der andere zur Antwort.
«Ach, ja wahrhaftig, aber sag doch, wie heißest du?» - «Eisenschulter,» entgegnete der andere. «Willst du mit mir kommen», sprach Hans zu ihm, «so gebe ich dir einen Franken im Tag, sowie zu essen und zu trinken.» Ihr könnt euch vorstellen, wie jener froh über dieses Anerbieten war, denn er hatte vor Armut nur noch Fetzen am Leibe.

Als sie wieder eine Meile gewandert waren, begegneten sie einem, der lief und lief, so schnell wie der Wind und hielt einen Eilbrief in den Händen. Hans rief ihm schon von weitem zu: «Halt da, was machst du? Wohin denn so eilig, und wie heißest denn du?» _ «Ich will einen Eilbrief besorgen und heiße: CorriCorri, Lauflauf.» - «Nun gut, mein lieber CorriCorri, willst du mit mir kommen? Ich gebe dir einen Franken im Tag und zu essen.» Der Eilbote machte nicht viel Worte, liess sich dies nicht zweimal sagen und schloss sich ihnen an.

Bald darauf kamen sie an die Tore der Stadt Roccapiana. Und als sie durch die Straßen dieses Burgfleckens zogen, sahen sie an einem Hause einen Maueranschlag, auf welchem in großen Buchstaben zu lesen war: «Die Tochter des Königs Roccachiusa mit Namen Fulmine oder Blitz fordert einen jeden heraus, mit ihr um die Wette zu rennen. Wer sie im Schnell-Laufen übertrifft, soll sie zur Frau erhalten; wer aber verliert, muss sein Leben lassen.»
«Das wäre etwas für unsereinen», dachte Hans bei sich im Stillen. «Ja wohl, ja freilich, ich werde die Königstochter zur Frau gewinnen!» Er wurde mit seinem Kameraden Lauflauf einig, stellte sich ohne lange Umstände dem König vor und schloss mit diesem einen Vertrag, der lautete: «Mein lieber Corri-Corri rennt für mich um die Wette. Verliert er, so muss ich sterben; bleibt er Sieger, so heirate ich die Prinzessin.»
Der König erklärte sich damit einverstanden. Tags darauf wurde das große Wettrennen veranstaltet. Fräulein Fulmine lief davon wie der Wind, und unser CorriCorri war im Begriff zu verlieren. Hei, wie viel Leute waren herbeigeströmt, um dem Schauspiel beizuwohnen!

Sobald Hans bemerkte, dass sein Schnell-Läufer zurückblieb, dachte er flugs daran, seinen Gefährten Magnet zu bitten, er solle die Prinzessin zum Stillstehen bringen. Da hob Magnet seine Hand in die Höhe und ließ sie langsam wieder sinken. Jetzt sah man ganz deutlich, wie die Königstochter immer mehr zurückblieb. Bald holte der Schnell-Läufer sie wieder ein und blieb Sieger. Nun war Hans sicher, dass er die Prinzessin zur Frau erhalten würde.

Wie glücklich war er darüber! Und er eilte sogleich ins Königsschloss, um die frohe Botschaft zu verkünden. Der König erzählte seiner Tochter, welchen Vertrag sie zusammen abgeschlossen hatten und dass sie darum Hans als Sieger heiraten müsse. Sie aber erklärte, sie wolle nicht ihn, sondern den Schnell-Läufer zum Manne nehmen; der sei es ja gewesen, der sie besiegt habe.

Jetzt wandte sich der König zu Hans mit den Worten: «Ich gebe dir so viel Gold, als ein Mann zu tragen vermag; aber meine Tochter bekommst du nicht!» Und damit führte er ihn in verschiedene Zimmer, die ganz voll Goldstücke waren. Dann ging er weg. Hierauf rief Hans seinen Freund Eisenschulter herbei, und dieser trug alles Gold in einem Mal von dannen. Sie luden es auf ein Segelschiff und stießen vom Ufer, ohne dass sie dem König für die genossene Gastfreundschaft Dank gesagt hatten. Der König aber bemerkte ihre Flucht und ließ ihnen nachjagen.

Hans und seine Gefährten waren jedoch schon weit draußen auf dem Wasser. Der Kanonier fing an, seine Pistole abzufeuern und gab so viel Schüsse ab, dass er in kurzer Zeit alle Leute, die dem Schiff nachsetzten, umbrachte.

Jetzt erst beschloss die Königstochter, Hans doch zu heiraten, denn er hatte ja den ganzen Goldschatz ihres Vaters mit fortgeführt, und sie hatte nichts mehr. Nun könnt ihr euch vorstellen, welch eine Freude das für den Königssohn war, dass es ihm nach so vielen Hindernissen gleich wohl gelang, die Prinzessin zu heiraten. Und er verschaffte damit auch seinem Bruder Luigino ein großes Glück.

Sie hielten ein Festmahl mit großer Pracht;
Doch mir haben sie keinen Bissen gebracht.

 

Quelle: Walter Keller, Tessiner Sagen und Volksmärchen, Märchen erzählt in Osogna von Maestra Alberti-Mattei, 1925

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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