Hundert auf einen Streich

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Einmal flickte ein Schneider auf seinem Tisch. Er hatte Überreste vom Mittagsmahl neben sich, und da machte sich ein Schwarm Fliegen über die Reste her. Er nahm einen Lappen und schlug sie alle tot. Er war ganz erstaunt, einen so furchtbar großen Haufen erschlagen zu haben, denn als er sie zählte, waren es hundert. Das war eine ungeheure Zahl, und er wußte nicht, wie er das bekannt machen wollte, damit die anderen vernähmen, wie stark er sei. Da kam ihm ein Gedanke. Er nähte auf der Weste mit großen Buchstaben auf: „Hundert auf einen Streich!“ Damit gedachte er überall Schrecken zu erregen, drum ging er auf die Wanderschaft.

In einem Walde gab es viele Bären. Da ließ der König ausrufen, wer die Bären töte, dem gebe er seine Tochter zur Frau. Der Schneider gedachte ein Probestück abzulegen und meldete sich zum Kampf. Er ließ einen großen eisernen Käfig anfertigen und mitten in den Wald tragen. Dazu verlangte er eine Spritze, Petrol und Feuerholz. Er sperrte sich in den Käfig ein und wartete, bis die Bären kamen. Wenn einer erschien, bespritzte er ihn mit Petrol, steckte ihn in Brand, worauf die Bestie davon rannte und verbrannte. Als alle tot waren, verließ er den Käfig, ließ die toten Tiere zum König tragen und verlangte seine Tochter zur Frau. „Ich habe dir die Arbeit zu leicht gemacht“, sagte der König, „du mußt mir noch ein anderes Probestücklein machen. In dem Wald daneben sind viele Mörder, gehst du und bringst sie um, so erhältst du meine Tochter ganz gewiß!“ Der Schneider machte ein saures Gesicht, erklärte sich aber bereit dazu. Er nahm ein Stücklein Ziger mit in der Tasche und begab sich in den Wald. Da erschienen die zwölf Mörder und lachten das dünne Männchen aus. Da griff der Schneider in die Tasche und sagte: „Seht her, könnt ihr diesen Kristall auch so zusammendrücken, daß das Wasser herauslauft“, und er machte es ihnen mit dem Ziger vor. „Nein, das können wir nicht“, sagten sie, „aber Steine zu Mehl zerreiben, das schon.“  „Das ist nichts“, rief der Schneider, „das Wasser muß herauslaufen!“

Sie zogen weiter durch den Wald. Da ergriff einer der Räuber den Wipfel einer Birke, bog ihn herunter und sagte: „Jetzt halt mir die Spitze ein wenig, wenn du stärker bist als wir!“  „Halten will ich ihn nicht“, sagte er, „aber drüber hinweg springen.“ Er ergriff den Wipfel, ließ ihn fahren und wurde im Bogen über den Baum hinausgeschleudert. Er kam aber so glücklich auf die Füße, daß er keinen Schaden nahm. „So, jetzt macht es nach“, rief er aus. Der erste stieg auf einen Felsen und versuchte von dort über den Baum zu setzen. Er blieb aber tot liegen. Alle andern machten es nach und fielen zu Tode. Da eilte der Schneider zum König zurück und sagte: „Die zwölf Mörder liegen tot bei dem großen Felsen, alle an einem Haufen. Ich habe sie mit leichter Müh ums Leben gebracht; ihr seht ja wohl, welche Kraft ich habe, aber jetzt will ich meinen Lohn. Gebet mir eure Tochter zur Frau!“ Der König fügte sich und die Hochzeit wurde abgehalten. Nach einigen Tagen beklagte sich die Tochter beim König: „Mein Mann ist ja nur ein leidiges Schneiderlein!“ Der Vater erwiderte: „Das weiß ich schon lange, aber jetzt bestelle ich hundert und einen Mann, denn einer mehr als hundert müssen es schon sein, die sollen mir das Schneiderlein aus dem Reich entfernen, aber ganz sachte mit ihm umgehen, sonst tötet er sie alle!“

Der Trupp Soldaten wurde so aufgestellt, daß das Haus des Schneiders ganz umringt war. Seine Frau trat ins Zimmer, aber da stand er am Tisch und sagte: „Kommt nur, ich wache!“ Da getraute sich keiner der Soldaten hinein, und sie kehrten alle um. Da sagte der König zu seiner Tochter: „Du hast dich gewiß geirrt!“ – „Nein, nein“, entgegnete sie heftig, „mein Mann ist ein leidiges Schneiderlein!“ – „Ich weiß schon Rat“, sagte der König, „warte nur!“ Er stellte ein ganzes Heer auf und befahl, daß es mit dem Schneider Krieg führe. Als der Schneider das vernahm, verstopfte er sich die Nase mit einem Flaschenkork und schritt den Soldaten entgegen. Als ihn die ersten erblickten, fragten sie ihn, warum er die Nase verstopft habe. Da antwortete er: „Den Kork darf ich nicht herausnehmen, sonst blase ich euch alle zusammen in die Luft!“ Da näherten sich die andern Soldaten auch, und als sie das vernahmen, baten sie ihn, den Zapfen doch nicht herauszunehmen, sie täten ihm gewiß nichts zuleide, und damit machten sie sich davon. Da sagte der König zum Schneider: „Mit dir ist nichts anzufangen“, und zur Tochter sagte er: „Du mußt dich halt leiden und bedenken, daß der Schneider das Land befreit hat von den Bären und Räubern!“

Ziger = Weichkäse (Kräuterkäse)


Quelle, J. Jegerlehner, Sagen und Märchen aus dem Oberwallis, Nr. 144

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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