Johannes ohne Furcht

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

In einem Dorf war ein Haus zu vermieten. Mehr als hundert Personen hatten schon darin gewohnt. Sie konnten es aber nur einen Tag, einen Abend und eine Nacht darin aushalten, und am nächsten Morgen gaben sie dem Besitzer wieder die Hausschlüssel zurück, weil sie um keinen Preis mehr dort bleiben wollten. Solange es heller Tag war, ging alles ganz gut. Sobald es jedoch an der Dorfkirche Ave Maria geläutet hatte und es dunkel wurde, geschah ein seltsamer Geisterspuk nach dem andern, und besonders in den oberen Stockwerken hörte man ein unheimliches und unerträgliches Gepolter. Dies dauerte die ganze Nacht bis zum Ave-Maria-Läuten am andern Morgen.

Einstmals wollte ein Schuhmacher jenes Haus zur Miete nehmen. Der Besitzer betrachtete es jedoch als seine Pflicht, ihn ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen, dass alle, die bisher darin gewohnt hatten, nur einen Tag und eine Nacht dort bleiben konnten, wegen der höchst sonderbaren Dinge, die im Hause vor sich gingen. Der Schuhmacher aber hatte keinerlei Angst und erklärte feierlich, er heisse «Johannes ohne Furcht».

Nachdem sie miteinander über den Mietpreis des Hauses einig geworden waren, brachte der Schuhmacher seine paar armseligen Möbelstücke und all die Werkzeuge, die er zu seinem bescheidenen Beruf brauchte, in das Haus und wohnte dort ganz allein. Den Tag über arbeitete er emsig an seinem Schustertischlein und sang fröhlich dazu, ohne im Geringsten auf irgendeine Art gestört zu werden. Als es dann dunkel wurde, hängte er den kleinen Kochtopf an die Kette über das Kaminfeuer und fachte ein lustig knisterndes Feuer an, um sich eine gute Reissuppe mit Kohl und Bohnen zuzubereiten. Hernach setzte er sich wieder an seine schlichte Arbeit.

Jetzt begann es draussen auf dem Kirchturm im Dorf Ave Maria zu läuten. Es war Feierabend. Da auf einmal hörte er in den oberen Stockwerken des Hauses einen Höllenspektakel, und durch den Rauchfang des Kamins ertönten die Worte: «Ich werfe, ich werfe!» Der Schuster hatte durchaus keine Angst, dass er sich dem heiligen Crispinus, dem Beschützer und Patron der ehrbaren Schuhmacher hätte empfehlen müssen, sondern als wirklicher Johannes ohne Furcht rief er mit starker, fester Stimme: «Lass mich in Ruhe! Doch wenn du Lust hast, wirf immerzu, nur wirf mir nichts in meine Suppe!» Und dann hämmerte er fröhlich weiter, und während er das harte Leder klopfte, sang er unbekümmert seine Lieder.

Da auf einmal fiel mit grossem Gepolter das Skelett eines menschlichen Armes auf den Herd herunter. Aber der Schuster, als wäre nichts geschehen, schmiss mit seinen Händen, die vom Pech und der Stiefelwichse ganz schwarz waren, die Gebeine ins Feuer unter den Kochtopf und fuhr ganz ruhig weiter zu klopfen und zu singen.

«Ich werfe, ich werfe!», donnerte von neuem die schauerliche Grabesstimme vom schwarzen Rauchfang des Kamines herab. «Wirf, was du willst», erwiderte Johannes ohne Furcht, «nur gib mir Acht, dass du mir meine Suppe nicht verdirbst!»

Jetzt fiel aus der Höhe das Gerippe des andern Armes herunter, dann die langen Knochen der Beine, ferner der Rumpf und zuletzt ein schneeweisser Totenschädel mit zwei schrecklichen leeren Augenhöhlen und einer regelmässigen Reihe von Zähnen. Dabei grinste der offene Mund ihn unheimlich an.

Johannes ohne Furcht warf ohne viel Federlesens alle diese Totengebeine unter den Kochtopf, der laut hörbar sprudelte. Dann setzte er sich wieder frohgemut an sein Tischlein und klopfte und sang weiter.

Mit einem Mal hörte Johannes auf der Holztreppe im Gang draussen einen ganz leichten Schritt, etwa wie wenn eine Henne herunterhüpfte, und die Kammertür sprang knirschend sperrangelweit auf. Johann ohne Furcht erhob unerschrocken seine Augen und sah sich vor einem Mann von riesiger Gestalt, tadellos in Weiss gekleidet, mit einer grossen weissen Mütze auf dem Kopf und einem Paar weissen Schuhen an den Füssen.

Die zwei Männer musterten sich gegenseitig mit den Augen von unten bis oben. «Was willst du?» sprach Johann leichten Tones. «Zünde eine Kerze an und folge mir», befahl die weisse Gestalt mit gebieterischer Stimme, «nimm auch jenen grossen Schlüssel dort an der Wand!»

«Nimm ihn selbst», erwiderte Johannes.

«Folge mir!»

Johannes ohne Furcht schritt hinter dem Gespenst her und gelangte an die Kellertür. «Mach auf!»

«öffne du selber!»

Sie traten ein. Eine feuchte, kalte Luft schlug Johannes entgegen. «Nimm dort jenen Pickel und grabe hier an dieser Stelle!» «Grab du nur selber!»

Die weisse Gestalt fing an zu graben und zu graben. Als sie etwa einen Meter tief gegraben hatte, stiess der Pickel auf etwas Hartes, das wie Eisen tönte. Man hatte eine eiserne Kiste entdeckt.

«Komm, nimm sie heraus!»

«Wenn du sie hingebracht hast, hol sie auch selbst heraus», gab Johannes zur Antwort.

Jetzt bückte sich die Geistererscheinung und hob die Kiste ohne Mühe heraus.

«Mach sie auf!»

«Hast du sie zugeschlossen, so mach sie selber wieder auf!» Das Gespenst öffnete die Kiste mit Leichtigkeit. Ei der Tausend! Sie war dick vollgepfropft mit prächtig schimmernden Goldstücken. «Nimm diese Goldmünzen und zähle sie!» «Nimm sie nur selber und zähle du!»

Die unheimliche Gestalt hob mit grosser Geduld und in verhältnismässig kurzer Zeit die schönen Goldstücke heraus und machte daraus fünf Häuflein oder besser gesagt fünf gleiche Teile. Dann kehrte sie sich gegen Johann ohne Furcht und sprach zu ihm: «Von diesen Teilen gehört einer dir, ein anderer soll dazu dienen, Messen für mich lesen zu lassen zum Heil meiner Seele; der dritte soll meinem Sohn sein als Eigentümer dieses Hauses, und die übrigen zwei Teile sollen meinen Mündelkindern übergeben werden.» Da sprach Johannes ohne Furcht zu der Gestalt: «Wer bist du denn? Und wozu alle diese Befehle?» «Ich war der Besitzer dieses Hauses und starb vor nunmehr dreizehn Jahren. Ich wurde in das Fegefeuer verwiesen, weil ich während meines Lebens, als ich Vormund zweier Pflegekinder war, ihnen ihr Erbe raubte und es für mich behielt. Das ist eines meiner Geheimnisse, das ich nur einzig dir anvertraue, denn alle andern Bewohner dieses Hauses flohen vor Entsetzen, als sie mich sahen, und ich konnte ihnen keine geheimen Dinge mitteilen. Meine Seele muss im Fegefeuer bleiben, bis ich alles zurückgegeben, was ich andern gestohlen habe. Morgen früh übergibst du den rechtmässigen Eigentümern das Geld, so wie ich es dir erklärt habe.» Und nachdem er das gesagt hatte, war das Schreckbild verschwunden.

Darauf stieg Johannes aus dem Keller wieder in die Küche hinauf und ass dort in aller Ruhe seine Suppe, die mittlerweile eingekocht, aber immer noch lauwarm war. Dann trank er zwei Gläser guten Weines zu seiner Stärkung, legte sich hierauf zu Bett und schlief so friedlich wie zwei Frankenstücke. Am andern Tag sass er schon wieder in der Morgenfrühe an der Arbeit und hub an, aus allen Leibeskräften zu singen. Da kam der Herr des Hauses zu ihm und fragte ihn lächelnd: «Nun, Johann, wie ist es dir ergangen diese Nacht?» —«Sehr gut», gab Johann ohne Furcht zur Antwort. Und er fing an, ihm von Anfang bis zu Ende alles zu erzählen, was sich zugetragen hatte.

Darauf verteilte er mit peinlicher Genauigkeit das Gold, so wie es ihm der Geist, der ihm erschienen war, befohlen hatte. Dann stellte er sein Schustertischlein samt den Messern, den Ahlen und dem Hammer beiseite und lebte fortan wie ein reicher Herr. Doch vergass er deswegen keineswegs seine Fröhlichkeit und seinen Gesang.

Seit dieser Zeit lässt sich in jenem Hause auch keinerlei Lärm noch Geisterspuk mehr vernehmen, und die neuen Bewohner wohnen daselbst unbehelligt und in Frieden.

 

Am Kaminfeuer der Tessiner                                                              

Walter Keller                                                                                          

Hans Feuz Verlag Bern

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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