Vom sich künden

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Im Jahre 1871, als ich in den Monaten Juni, Juli und August dem Herrn Alex. Flury in Pontresina in photographischen Arbeiten aushalf, liess eine traurige Begebenheit mich an die geheimnisvolle Verständigung und Ver­bindung der Seelen glauben.

Ich war nämlich am 4. Juli Abends von einem Gange ins Freie auf mein Zimmer zurückgekehrt, willens, balde mich zu legen, indes mein Mitarbeiter, FI. Davatz, in seinem Zimmer nebenan noch mit Schreiben beschäftigt war. Wie ich nun so noch in einem Buche las, vernahm ich vom Zimmer meines Kollegen her plötzlich einen Ton, wie wenn Jemand mit einem Messer oder dergleichen stark an ein leeres Trinkglas schlägt. Ich ging zu Davatz, und fragte Ihn, ob er so spät noch Chemikalien mische, bemerkte aber gleich, dass meine Frage voreilig gewesen, denn von Gläsern und Präparaten war keine Spur zu sehen. - Er schrieb, wie ich vordem es mir gedacht hatte. - Ich sagte ihm von dem sonderbaren Ton, den ich vernom­men hatte, und er erwiderte: »Das ist sehr sonderbar«. Nun blieb ich bei ihm eine lange Weile, und wir erzählten einander so Allerlei vom »sich künden«, bis es doch Zeit wurde, zu Bette zu gehen. - Die ganze Nacht träumte ich davon.

Beim Morgenessen des folgenden Tages erzählte die Magd, sie habe ge­stern Abend auf der Treppe nach dem obern Stocke gesessen, und habe Stiefel geputzt, da sei so nach 10 Uhr eine Gestalt (sie hätte sich verschwo­ren, ich sei es gewesen) auf sie zugekommen, obgleich die Haustüre längst schon geschlossen war. Diese Gestalt hätte die Treppe hinauf wollen, sie aber habe keine Kraft und Macht gehabt, aufzustehen, um Platz zu machen, und so sei sie immer auf dem Tritte hin und her gerutscht bis die Gestalt endlich doch hinauf habe können. Das sei ihr aber so sonderbar vorgekom­men, und sie habe Stiefel und Wichse und Bürsten im Stiche gelassen, ohne abzuwarten, ob die Gestalt wieder herabkomme, oder was daraus noch werden solle. Sowohl Davatz als ich erwähnten nun auch des Vorfalles am vorigen Abende, und Alle fanden das Seltsame bedeutungsvoll. Indessen gingen wir wieder an die gewohnte Arbeit.

Ungefähr um 9 Uhr Vormittags kam Herr Flury zu mir, und fing mit mir ein Gespräch an, wie es so im menschlichen Leben gehe, und kam vom Allgemeinen auf das Nähere, bis er mir endlich sagte, Herr Hauser in Cur, den ich wohl kenne, habe ihm berichtet, er solle mir melden, dass mein Bruder Carl, der in der Anstalt St. Pirminsberg war, sehr krank sei, und meinen baldigen Besuch erwarte. Begreiflich war meine Bestürzung sehr gross, und, nachdem H. Flury soweit mich gefasst sah, das Schlimmste zu vernehmen, gab er mir ein Te­legramm, zufügend: »trösten Sie sich in Gottes Namen«. - Das Telegramm enthielt die Nachricht meiner lieben Frau an Herrn Flury, er möchte auf schonende Weise mit dem Hinschiede meines Bruders Carl mich bekannt machen. Und Herr Flury hat es so gemacht, wie man eben jede Todesnach­richt mitteilen soll, mit der grössten Vorsicht meldete er mir die betrüben­de Nachricht, umso mehr auch ihm bekannt war, dass mein Bruder und ich seit einer Reihe von Jahren vom Unglücke und Missgeschicke verfolgt, sehr aneinander hingen (wie man so sagt), und dass eben nur betrübend Verumständungen allein Schuld an seinem geistig krankhaften Zustande waren.

Ich verträumte begreiflich den ganzen Tag; Herr Flury war indessen nachsichtig genug, mich in der Arbeit zu schonen; noch mehr! er und seine gute Frau suchten mich zu trösten, so gut es ging. Am Abende brachte der Briefträger mir einen Brief von meiner l. Frau die in Eile weitern Bericht mir gab über die jede Stunde zu erwartende Abberufung des armen Bruders.

Jetzt war mir und den Andern Alles klar: Während ich am vorigen Abende in meinem Zimmer am Lesen war, »kündete« der unglückliche Bruder »sich an«, - er dachte in seinen letzten Stunden noch an mich, er »kündete« sich sonderbarer Weise durch den seltsamen Ton oder Klang am leeren Trinkglase. - Sein Geist war also bei mir. - Die Vision, welche die Magd gehabt, war wieder er gewesen, in welchen letzten Augenblicken seines irdischen Daseins er die grösste Anstrengung gemacht haben mag, mir sich noch zu zeigen, geistig noch mit mir zu verkehren.

Und wirklich, nach dem Berichte des damaligen Anstalts-Direktoren Herrn Zinn muss er in den letzten Stunden 9-11 Uhr Nachts schrecklich gelitten haben, worauf nach 11 Uhr Nachts seine Auflösung erfolgte.

Mag nun die Verwandtschaft und die engere Beziehung der Seelen zu einander bezweifelt oder verneint, gar rund abgestritten werden! -sie besteht doch, und äussert sich mehr oder weniger kräftig, oder schwächer, nach dem Grade der gegenseitigen Zuneigung.

Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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