Der gescheite Hanse

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

In der Eisten im Vispertal stand ein Hüttchen, das von drei Leut­chen, Vater, Mutter und Sohn bewohnt wurde. Die Eltern hatten im Laufe der Jahre ein Sümmchen Geld auf die Seite gelegt, und da der Bub ein geweckter Bursche war, riet ihnen der Pfarrer, den Kna­ben in die deutschen Lande zu schicken, damit er an den Hoch­schulen studiere. Der Vater wollte zuerst nichts vom Studieren wissen, doch die Mutter bat ihn, den Sohn doch ziehen zu lassen, denn jedenfalls werde etwas ganz Apartes aus ihrem Hanse, vielleicht sogar ein Geistlicher. Da zog der Vater den Geldsack unter dem Bett hervor, zählte ein Sümmchen ab und legte es dem Buben in die Hand. «So, jetzt gehst du ins deutsche Land und studierst die Bücher!» Der Bub zog fort, und als das Jahr um war, kam er wieder nach Hause. Da sagte der Vater: «Komm her, Hanse und erzähle mir, was du gelernt hast!» Der Bub steckte beide Hände in den Hosen­sack und sagte: «Ich weiss jetzt, was die Frösche quacken!» «Wart, du Schlingel», brauste der Vater auf, «um Dummheiten zu treiben, habe ich dich nicht ins Deutsche geschickt! Jetzt bleibst du zu Hause und fütterst das Vieh!» Hanse gehorchte und trieb jeden Tag die drei Kühe und die paar Ziegen auf die Weide. Aber als die Ferien um waren, bat er um Geld, damit er abermals zur hohen Schule ins Deutsche wandern könne. Der Vater, der dem Sohne vieles zu liebe tat, kraute sich in den Haaren und wehrte sich lange, aber zuletzt gab er ihm das Geld und ermahnte ihn, fleissig zu sein und keine dummen Streiche zu verüben. Hanse war glücklich und zog mit einem andern fahren­den Schüler aus demselben Tale davon.

Das Jahr war noch nicht zu Ende, als Hanse, zu einem schlanken Bürschchen herangereift, wieder über die Schwelle des väterlichen Hauses trat. Die Eltern begrüssten ihn freudig und der Vater stellte gleich die Frage: «Nun Hanse, was hast du draussen gelernt?» Der Student erwiderte mit heller Stimme: «Ich weiss jetzt, was die Hunde bellen!» «So, schon wieder solche Narretei», rief der Vater entrüstet. «Jetzt hast du mein letztes Geld verschleudert, mor­gen gehst du mit mir ins Holz!» Hanse erwiderte nichts und arbeitete willig, aber als die Ferien verstrichen waren, bat er den Vater wieder um Geld, damit er die Studien in den deutschen Landen fortsetzen könne. Der Vater schaute ihn unfreundlich an und sagte: «Nein, damit kommst du mir nicht mehr, du bleibst hier, und dabei bleibt es! » Da wandte sich der Sohn an die Mutter, und diese bat den Vater, bis er weich wurde, und dem Sohne das Geld auf die Hand zählte. Hanse versprach, fleissig zu studieren und verabschiedete sich. Nach Ablauf des Jahres kam er wieder nach Hause. Die Hosen reichten ihm kaum bis zu den Knöcheln, so stramm war er ge­wachsen. Der Vater stellte gleich die Frage, was er jetzt studiert habe.

«Nun, ich weiss jetzt, was die Vögel singen», sagte Hanse, ohne mit den Wimpern zu zucken. Der Vater geriet in hellen Zorn und hätte den Sohn geschlagen, wenn er nicht so gross vor ihm ge­standen wäre. Schon am nächsten Morgen ging er zu Markte und kaufte einen Trupp Schafe. Diese musste nun Hanse hüten. Tag für Tag sass er bei der Herde, und die Zeit wurde ihm recht lange dabei.

Als er eines Tages so einsam und trübe gestimmt die Schafe wei­dete und zum Zeitvertreib an einen Baum hinauflangte, um zu füh­len, ob die Holzbirnen bald mürbe würden, da sah er zwei gutge­kleidete Männer des Weges ziehen. Sie grüssten freundlich, blieben bei ihm stehen und erzählten, dass sie auf dem Wege nach Sitten be­griffen seien, wo übermorgen der Landeshauptmann gewählt werde, und dass man nicht wissen könne, auf wen die Wahl falle, und sie blinzelten einander zu. Hanse merkte wohl, dass jeder von ihnen heimlich hoffte, die Wahl werde auf ihn fallen. Da es ihn gelüstete, aus der Bergeinsamkeit heraus wieder einmal unter die Leute zu kommen, sagte er: «Ich würde euch gerne begleiten und den Weg zeigen, denn ich kenne ihn wohl, aber keinen Batzen habe ich im Sack, und der Vater würde mir kein Geld geben, nein, das würde er nicht! » Da lachten sie und sagten, wenn er Lust habe, mitzukom­men, so solle er sich ihnen nur gleich anschliessen, wo es für zwei reiche, da reiche es auch für drei, das Geld solle ihm keine Sorge machen. Da trieb er die Schafe rasch heimwärts, tschu, tschu, setzte den Hut auf den Kopf, schnitt sich eine Haselgerte und zog mit den zwei Männern von dannen, zuerst der Visp entlang und dann das Rhonetal abwärts.

Als die Sonne sich senkte, führte der Weg durch sumpfige Wiesen, in denen die Frösche laut konzertierten. Die drei Wanderer waren müde, und keiner sagte zum andern ein Wort. Da rief Hanse plötz­lich: «Ihr Herren, wisst ihr, was die Frösche quacken?» Die zwei Männer sahen ihn von der Seite an und lachten: «Wie sollten wir das wissen, weisst du es etwa?» Hanse erwiderte: «Ja, wohl verstehe ich ihre Sprache. Sie sagen, in dem Wirtshaus, wo wir übernachten werden, liege eine Frau seit Jahren krank im Bett. Einer der Frösche halte eine ungeweihte Hostie im Maule. Wenn man sie erwische, vom Pfarrer segnen lasse und der Frau zu schlucken gebe, werde sie entweder gesund oder müsse noch im gleichen Augenblick sterben!»

Die Reisenden lachten den tollen Hanse tüchtig aus und schenkten seiner Rede keinen Glauben. Als sie jedoch das Wirtshaus erreichten und sich herausstellte, dass dort eine Frau totkrank im Bett liege und kein Mensch ihr helfen könne, da dachten sie, der junge Weg­gefährte könnte doch recht haben. Da trat Hanse, der in den Sumpf zurückgegangen war, in die Stube und zeigte ihnen die Hostie, die er dem Frosch aus dem Maul gerissen hatte, und nun wurde der Knecht damit zum Pfarrer geschickt, damit er sie segne. Die kranke Frau war bereit, sie zu schlucken und dieses letzte Mittel noch zu ver­suchen. Sie nahm das gelbe Täfelchen ein, und nun fuhr es wie neues Leben durch ihren Körper. Sie fühlte sich wie auf einen Schlag besser, die Kräfte nahmen rasch zu, und am nächsten Morgen konnte sie zum ersten Mal seit vielen Jahren das Bett verlassen. Die Frau dankte den Herren sehr und fragte, wie viel Lohn sie verlangten. Diese sagten: «Nichts für uns, der Hanse hat das alles gewusst», und da wurde er auch aufgefordert, seine Rechnung zu stellen. «Wenn es nicht zu viel ist», sagte er bescheiden, «so gebt mir drei Kronen, denn meine Taschen sind leer!» Da erhielt er fünf Kronen, und nun war er überglücklich.

Am Morgen darauf wurde die Reise fortgesetzt. Da es heiss war, hielten die Wanderer an einem schattigen Waldrand eine lange Mit­tagsrast, worauf sie weitergingen und sich gegen Abend dem Dörf­chen Leukergrund näherten. Im Schlosswirtshause, wo sie die zweite Nacht zubringen wollten, kläfften die Hunde. Da fragte Hanse die Reisekameraden, ob sie wüssten, was die Hunde bellten. Wiederum richteten sich zwei fragende, ungläubige Gesichter auf ihn, und sie lachten und riefen: «Wie sollten wir das wissen, weisst du es doch auch nicht!» Hanse lächelte und sagte: «Ich verstehe ihre Sprache so gut wie die eure. Sie bellen, nach dem Nachtessen werde ein armseliger Bett­ler ins Schloss kommen, Almosen verlangen und Unterkunft, dann werde er bei der Tür liegen, um Mitternacht aufstehen, eine Pfeife ertönen lassen, und sofort werden elf andere Räuber herbeieilen, das Schloss berauben und die Insassen ermorden!» Die Gefährten betrachteten den Hanse mit scheuer Verwunderung, dann lachten sie laut auf, gedachten aber im Weiterwandern der Frösche und der kranken Frau im Wirtshause und fanden für gut, die ganze Geschichte den Schlossbewohnern zu erzählen. Als der Bettler kurz nach der Abendmahlzeit erschien, demütig um Almosen und Nachtlager bat und sich hinter die Tür legte, schwanden die Zweifel, und sofort wurde die Polizei geholt. Die Schlossknechte wurden bewaffnet, dann umstellten sie mit der Poli­zei das Schlossgebäude und legten sich, hinter Büschen, Fässern und Brettern wohlversteckt, auf die Lauer. Gegen Mitternacht erhob sich der Bettler von seinem Lager, öffnete leise die Tür und liess einen gellenden Pfiff ertönen. Die elf Räuber schlichen herbei, wurden aber teils niedergemacht, teils gefangen­genommen. Der Bettler wurde ebenfalls geknebelt und mit den an­dern in den Turm geworfen. Die Schlossleute wussten den Herren grossen Dank und fragten, was sie ihnen schuldig seien. Diese wiesen auf den Hanse, der die Sprache der Hunde kenne, und der Junge verlangte fünf Louisdor, wenn das nicht überfordert sei. Er erhielt aber das Doppelte, und nun konnte er nicht nur die Reise selbst bezahlen, sondern den Eltern in Sitten noch ein schönes Geschenk kaufen.

Tags darauf wanderten die drei Freunde wieder talabwärts, und als die zwei Hügel der Stadt Sitten in Sicht kamen, plauderten sie lustig in den Tag hinein. Die Strasse war bis weit vor die Stadt hinaus mit alten Nussbäumen bepflanzt, und im Wipfel einer mäch­tigen Krone. sass ein Vögelein und sang gar wunderschön. Hanse unterbrach das Geplauder und fragte die Kameraden, ob sie wüssten, was der Vogel pfeife. Wieder sahen sie ihn verwundert an und frag­ten, ob er die Sprache der Vögel auch verstehe. Hanse sagte: «Ja, die verstehe ich noch am besten; der Vogel singt, heute werde in Sitten der Landeshauptmann gewählt und einer von uns sei der Aus­erkorene!» Die beiden Gefährten blieben stehen und machten böse Gesichter. «Ei was, meinst du etwa auch noch Landvogt zu werden, du Grün­specht, ja wohl! » Und sie fingen mit ihm Streit an. Er aber sagte gelassen, er habe ihnen ja nur wiederholt, was der Vogel gesungen habe; sie sollten nur ins Städtchen gehen, er bleibe gerne hier zurück bis die Wahl getroffen sei. Da liessen sie ihn allein und beeilten sich fortzukommen. Er legte sich ins Gras, streckte die müden Beine aus, schaute in den tiefblauen Himmel und wartete wohl eine gute Stunde im Schatten des Nussbaumes, bevor er langsam den Weg fortsetzte.

In Sitten hatte sich die Kunde von dem grossen Wissen des Hanse schon verbreitet, und alle Welt erzählte von der wunderbaren Heilung der Frau durch die sonderbare Hostie und der Rettung der Schlossleute in Leukergrund aus Räuberhand. Da hiess es, einen bes­sern und tüchtigeren Landeshauptmann als den Hanse könnte man nicht wählen, und so wurde er von der Behörde zum Landesvor­steher vorgeschlagen und vom Volke einhellig erwählt. Da er das Amt bald antreten musste, blieb er in Sitten und schrieb seinen Eltern, sie möchten das Häuschen in der Eisten verkaufen und zu ihm nach Sitten ziehen. Das Geld, das sie für seine Studien in den deutschen Landen ausgegeben, sei doch nicht alles verloren gewesen, und nun möchte er ihnen vergelten, was sie für ihn getan hätten.

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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