Die weisse Gemse (J. Jegerlehner)

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Es war eine sternklare Septembernacht. Schon morgens um zwei Uhr war Theodul, der Gemsjäger, aufgebrochen. Wer Gernsen jagen will, muss früh aufstehen, auch wenn er hoch oben im Gebirge wohnt, um bei Zeiten auf der Warte zu sein und sie bei der Morgen­äsung zu überraschen. Er hatte die Flinte nur mit Schrot geladen, denn bevor er zu den Platten stieg, wo er die Gemsen vermutete, wollte er hierseits des Berges die Schneehühner, die er in den letzten Tagen aufgestöbert, in ihrem Schlupfwinkel aufjagen. Er schritt lang­sam aufwärts, und über dem Bergkamm dämmerte der Tag. Er er­reichte den Ort, wo er die Schneehühner vermutete, aber sie mussten ihr Nachtquartier gewechselt haben, denn trotzdem er der bekannten Wand nachstrich und jeden Winkel scharf ins Auge fasste, sah er keine Feder. Da er die Schrotladung nicht aus dem Laufe ziehen konnte, kroch er in eine Spalte und liess dort den Schuss los. Ein dumpfer Knall erfolgte, wie von einem nassen Schuss, der nirgends ein Echo erweckte und auf der andern Bergseite von den Gemsen nicht gehört werden konnte. Dann lud er aufs neue, setzte die Blei­kugel ein, hing das Gewehr wieder über die Schultern und stieg bergan.

Unterdessen war es hell geworden. Er überschritt den Kamm und folgte einem Felsenbande, das einer Fluh entlang führte. Tief unten in einem Felsentrichter schlummerte noch der Bergsee, in nächtliches Dunkel gehüllt. Ab und zu flog ein Vögelchen vor dem Jäger auf und schoss pfeilschnell und lustig zwitschernd in die Luft; sonst hörte er nichts als den rieselnden Schutt, der sich unter seinen Füssen löste. Wenn eine Runse das Felsenband durchschnitt, musste er vorsichtig hinüberklettern, oder wenn sie tiefer eingeschnitten war, hinuntersteigen und auf der andern Seite wieder hinauf. Als er das Ende des Rasenbandes erreicht hatte, flimmerte der goldene Strah­lenkranz hinter der Bergwand, und jeden Augenblick konnte die Sonne oben sein. Er stand auf einem schräg abfallenden Bergrücken, hinter dem es in schwindliger Steilheit in die Tiefe ging. Bei diesem Ausstich, wie die Jäger die Stellen nennen, von denen aus die Gem­sen geschossen werden, hoffte er den ersten Schuss abgeben zu kön­nen. Er legte Gewehr und Hut ins Gestein und rutschte auf dem Bauche langsam vorwärts. In den Steilgründen, in die er jetzt hin­unterblickte, pflegten die Gemsen zu weiden. Bis zu halber Höhe reichten die Tannen hinauf, in deren Schutz sie die Nacht zubrach­ten. Er streckte den Kopf über den Rand hinaus und spähte lange hinunter. In dem Krachen unten wob noch die Morgendämmerung, und kaum unterschied er die knorrigen Legföhren voneinander, die oft sonderbare Gestalt annehmen und bald ein Tier, bald einen Steinklumpen darstellen. Mancher Jäger hat solche Zwergföhren schon für Gemsen gehalten und den Irrtum erst wahrgenommen, wenn er darauf zielte. Aber was er jetzt erspähte, waren nicht Zwergföhren und nicht Felsblöcke, es waren dunkle Flecken, die sich bewegten, das waren die Gemsen, und dabei sah er ein weisses Tier, das konnte nur eine weisse Gemse sein. Er hatte schon oft von seltenen Gemsen erzählen hören mit einem Schneepelz und feuer­roten Augen, die den Jäger ins Unglück stürzen, wenn er es wagt, auf sie anzuschlagen. Das war aber nur schwarzer Aberglaube, und er gehörte zu der jungen Generation, die solches Gefasel nicht höher einschätzt, als es wert ist. Eine weisse Gemse nicht zu erlegen, wenn man sie vor der Nase hat und so gut zum Schusse kommt, das wäre eine schöne Narretei gewesen. Was werden dagegen seine Kameraden sagen, wenn er mit dem weissen Tier über den Schultern nach Hause kommt!

Er kroch zurück, ergriff die Flinte und prüfte sie genau. Sie sah aus wie immer; den Lauf hatte er erst neu einsetzen lassen und von einem Zerspringen desselben ... «dummes Geschwätz», dachte er, «abergläubisch bin ich nun einmal nicht!» Er rückte sich auf dem Bauche zurecht, spreizte die Beine auseinander und nahm die weisse Gemse, die ruhig äste, aufs Korn. Aber verdammt, seine Hand zit­terte. «So lass ich sie halt, denn fehlen will ich nicht», dachte er und rückte den Lauf mehr nach rechts. «Dort den falben Bock! - Eine weisse Gemse zehn Schritt davon und auf einen Bock zielen, wie man sie jetzt alle Tage zu Dutzenden niederknallt in den Alpen, das dürfte ich ja keinem Menschen sagen!» Er schob den Lauf wieder nach links und zielte. «Das verteufelte Zittern in der Hand!- Der Schuss krachte. Aus der Mündung stieg ein graues übelriechendes Räuchlein. Er erhob sich und spähte hinunter. Vielleicht doch! Stein­geröll, Legföhren und weiter unten dichter Tannenwald. Gefehlt! Verdammt! Er lud die Büchse wieder, setzte den Hut auf das schwarze Haar, das in dichten Strähnen über die Stirne floss, spähte in die Ferne und sah, wie die Tiere, das weisse zuvorderst, weit hinten den Bergrücken hinauf jagten und dahinter verschwanden. «Aber jetzt soll mich grad der böse Feind holen und das soll er, wenn ich heute nicht nochmals zum Schuss komme», wetterte er und polterte die Geröllhalde hinunter. Dann setzte er sich wieder in ruhige Gangart, denn Eilen hatte keinen Zweck.

Eine Stunde später wanderte er dem Bergsee entlang, wo er den Pfiff der Murmeltiere hörte, die ihre Schnauzen aus den Löchern streckten, um zu schnuppern, ob es noch nicht Zeit sei, den Pelz der warmen Morgensonne auszusetzen. Bald wird die lange Win­ternacht hereinbrechen, und dann muss das eigene Fett die Sonnen­wärme ersetzen. Sollte er sich hier hinter ein Steinmäuerchen setzen, den Murmeltieren auflauern und die weisse Gemse fahren lassen? Nein, nicht für ein Dutzend dieser Fettbäuche hätte er sie gegeben. Er begann die jähe Halde empor zu klimmen; er wusste genau, wo er sie heute noch antreffen würde, und diesmal wollte er nicht fehlschiessen. Er stieg höher, kletterte über einen Kamm hinweg in eine Mulde hinunter, dann wieder hinauf, und nun begann er mit der grössten Vorsicht vorzurücken. Die Schneeflecke, auf denen sich die Spuren der Gemsen leicht abzeichneten, waren so steil, dass er sich kaum mehr halten konnte. Endlich war er am Ziele. Er nahm die Büchse in die Hand und liess sich auf ein Knie nieder. Wenn er die Gemse hier nicht fand, gab es nur noch eine Möglich­keit, dann war sie im Guggettli. Er rutschte ein wenig vorwärts und guckte über den Steinrucken hinaus, und sein Herz schlug ihm zum Halse empor. Auf einen guten Büchsenschuss entfernt sah er die weisse Gemse ganz allein neben einem Schneefeld weiden. Er schlich noch einige Schritte näher und legte an. Der Wind blies ihm ins Gesicht, das war günstig. Er legte die Flinte wieder nieder, denn der ganze Körper zitterte von der Aufregung und dem beschwerlichen Marsche, das Auge floss ihm über, der Wind musste es entzündet haben. Wenn er das linke Auge schloss, sah er nur eine weisse Fläche, und er konnte das Tier von der Schneedecke nicht mehr unterscheiden. Da drückte er los. Als sich der Rauch verzogen hatte, war die Gemse verschwunden. Er sprang auf und eilte so schnell er konnte zu der Stelle, wo sie soeben noch geäst, denn Blut musste geflossen sein; aber er hatte sie nicht einmal gestreift. Er hatte heute einen verteufelten Tag, und jetzt konnte er sich von dem Tiere erst nicht mehr los machen, also vorwärts zum Guggettlihorn.

Er wickelte einen Büschel Werg um den Ladestock, fuhr einigemal damit durch den Lauf und liess die letzte Kugel hineingleiten. Zwei volle Stunden musste er steigen und klettern, bis er den Ausstich erreicht hatte. Als er am neuen Standorte auslugte, sah er die Gemse so ruhig weiden, als ob nichts vorgefallen wäre. Aus den Felskaminen flossen die weissen Schneeadern, und er konnte keine bequeme Stel­lung wählen zur Abgabe des Schusses. Er blieb stehen und setzte die Füsse fest ein. Wenn er ausglitt oder wankte, so stürzte er kirch­turmstief hinunter. Er schlug an. Da löste sich ein Stein und polterte hinunter. Die Gemse hob den Kopf und machte einen Sprung. Da krachte auch schon der Schuss und erweckte ein langgezogenes Echo in den Felsen. Der Schuss hatte den Schnee gelockert, er sah eine Lawine niedersausen, die weiter unten durchs Holz brach und an den dicken Stämmen zerschellte. Der Schuss sass wieder nicht, das war sicher. Immerhin wollte er sehen, wo die Gemse gestanden hatte und sich den Ort merken. Aber was winkt denn dort für ein weisses Tuch? Hat sich jemand in diesen Flühen verstiegen, und wenn ich nicht irre, gar noch eine Dame? Er ging auf sie zu und glotzte sie an. «Schaut nur nicht so stutzig drein», rief die Dame mit freundlicher Stimme, «ich bin die weisse Gemse gewesen, und wenn wir auf sicherm Boden sind, werde ich Euch erzählen, wie das alles gekommen ist! »

Er geleitete, immer noch voller Staunen, die vornehme Dame zu­rück und hinunter zum See. Sie trippelte an seiner Hand durch das Gestein, und wenn sie an eine böse Stelle gerieten, hob er sie sanft in die Höhe, und das schien ihr sehr zu gefallen. Am Seeufer, wo die Wellen plätscherten, hielten sie Mittagsrast. Der Jäger zog sein Frühstück hervor und teilte es mit dem Fräulein. «Ja, ich danke Euch sehr, sagte sie, «denn Ihr habt mich erlöst. Ich bin das Kind reicher Eltern, die weit unten in Savoyen wohnen. Ich habe in den Büchern viel von den Schweizer Gemsen gelesen und immer gewünscht, so ein flinkes Tier zu werden und über alle Berge davon­rasen zu können, Tag und Nacht in den schroffen Felsen herum­zuschweifen und die Jäger zum Narren zu halten. Ich stellte mir vor, wie herrlich das sein müsste, aber da hat mich die Mutter jedes­mal gescholten und mir mit schwerer Strafe gedroht, wenn ich noch mehr davon rede. Doch ich konnte halt den Trieb nach den Bergen nicht ersticken und drohte fortzulaufen, und da bin ich eines Mor­gens hier oben erwacht als weisse Gemse mit zwei Hörnchen und niedlichen Hufen, und eine Stimme hat mir zugerufen: «So, jetzt kannst du äsen, du weisser Zweihörner und dich jagen lassen, und nicht eher sollst du erlöst sein, als bis ein Jägersmann dreimal auf dich angelegt und dich dreimal fehlt! Wie lange ich hier oben war, weiss ich nicht, mancher Jäger hat mich gejagt, keiner hat es gewagt, den Schuss abzufeuern, jetzt aber bin ich erlöst, und ich danke Euch sehr dafür!»

Theodul hat dann das schöne Fräulein hinuntergeleitet ins Tal und ist wieder hinaufgestiegen ins Bergdorf. Über das seltsame Aben­teuer aber hat er sich ausgeschwiegen. Einige Monate später ist er aus seiner Heimat verschwunden. Die Leute munkelten allerlei über ihn und deuteten mit dem Zeigefinger nach der Stirne, wenn sie von ihm sprachen. Übergeschnappt sei er und nach Savoyen aus­gewandert, der Lapp, weil ihn dort ein reiches Fräulein heiraten wolle.

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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