Der Narr und die Räuber

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

In dem dichten Fichtenwald zwischen Brig und Turtmann trieben sich Räuber herum, die plünderten, raubten und die Dorfschaften in Schrecken jagten. Kein Mensch wagte es, sich ihrem frechen Trei­ben entgegenzustellen. Da erbot sich der Freiherr Stockalper von Brig, die Räuber in ihrer Höhle aufzusuchen und auszuhecken, wie man sie am besten einfangen könne. Dieser Stockalper stand bei dem Volk in hohen Ehren und genoss den Ruf eines Mannes von grossen Talenten, umfassendem Wissen und schlauen Praktiken. Auch soll er bei hohen Fürstlichkeiten, so beim Herzog von Aosta, in grosser Gunst gestanden haben. Man liebte ihn besonders seiner ritterlichen Kühnheit wegen, und das Wagestück, das er nun unter­nahm, trug viel dazu bei, ihn bei den Anwohnern der Rhone und bei den Bergleuten des Wallis in noch grösseres Ansehen zu bringen.

Er verkleidete sich als schmutziger Bettler und Narr und reiste zur Nachtzeit durch den gefährlichen Wald. Als ihn die Räuber einfingen, stellte er sich so dumm und einfältig, dass sie ihn unter Spott und grossem Gelächter zu den Kameraden in die Höhle brach­ten. Dort trieben sie allerlei Narrheiten mit ihm und gaben ihm aus einem Totenschädel zu trinken. Der Narr machte einige Gri­massen, lachte, setzte die Schale an, trank sie aus und rief: «Die Suppe ist gut!» Da er behauptete, ein Meister im Kochen zu sein, wurde er als Bratenwender angestellt. Nun hatte er die schönste Ge­legenheit, sich das Räubernest genau zu besehen und seine Pläne auszuhecken. In der Höhle und draussen im Walde, wenn er das dürre Holz zusammenlas, beobachtete er die Bande und merkte sich die geheimen Zugänge zur Höhle. Schon lange hatte er gemerkt, dass ihm die Räuber nicht alle trauten. Einige betrachteten ihn mit argwöhnischen Blicken, und eines Tages hörte er, wie sie zu ihren Kameraden sagten: «Das ist gar kein Narr, der verstellt sich nur, das ist ein verkleideter Spion, wir müssen ihn töten, sonst wird er uns verraten!» Die andern jedoch entgegneten: «Ach was, lassen wir ihn am Leben, wenn er auch kein Narr ist, so versteht er doch das Kochen famos, und damit haben wir unsere guten Tage!» Der Narr, der eben in der Schüssel Eier rührte und zuhörte, verzog sein Ge­sicht zu einem Grinsen und sagte in läppischem Tone: «Es geht nicht immer so, sondern auch so!» und er rührte statt links, rechts herum! Die Räuber achteten seines Geschwätzes wenig und wurden einig, ihn am Leben zu lassen.

Nach einigen Wochen wünschte der närrische Koch tiefer in den Wald einzudringen, um zu erfahren, wie es im dichten Busch eigent­lich aussehe. Er gab vor, Beeren suchen zu wollen, um auf den Abend ein besonders leckeres Gericht vorsetzen zu können. Wieder­um sagten die einen, er hätte zu gescheite Augen, um ein Narr zu sein, man solle ihn auf der Stelle töten. Aber der Räuberhauptmann sagte: «Lasst ihn nur gehen, der weiss nicht einmal, was ein Wald ist!»

Da liessen sie ihn ziehen, und er nahm eine Schüssel für die Beeren unter den Arm. Die Misstrauischen schlichen ihm nach, doch als sie sahen, dass er vorerst wieder Brennholz zu Haufen trug und dann Beeren in die Schüssel pflückte, dachten sie, sie hätten sich getäuscht und kehrten zu der Höhle zurück. Als Stockalper merkte, dass seine Wächter zurückgeblieben, warf er die Schüssel ins Strauchwerk, riss die Fetzen, die ihn am Laufen hinderten, von seinen Kleidern und wandte sich zu eiliger Flucht aus dem Walde. Unterwegs traf er einen Fuhrmann, der ihn auf­lud und sein Pferd in Galopp setzte, als er ihm erzählte, um was es sich handle. So gelangte er glücklich nach Brig, wo er sofort die Polizei und das ganze Dorf alarmierte.

Am nächsten Tag wurde alles vorbereitet, damit die Höhle zwi­schen zwölf und ein Uhr mittags, wo die Räuber zu schlafen pfleg­ten, von mehreren Seiten zugleich überfallen werden konnte. Der Plan gelang vortrefflich. Man schlich durch die geheimen Zugänge heran, die Räuber wurden in der Höhle überrascht, gefangen ge­nommen und gefesselt nach Brig geführt.

Als die Übeltäter in Brig mit gebundenen Händen zum Richt­platz geführt wurden, sahen sie unter den Richtern den entflohenen Narren und Koch in ehrwürdiger Amtskleidung. Sie erkannten ihn sofort und einer rief: «Seht den Narren, ich habe immer gesagt, er sei kein Narr!» Stockalper erhob sich und sagte: «Und ich habe auch gesagt, es gehe nicht immer links herum», und er machte die Bewegung des Rührens, «sondern auch einmal rechts herum!» Der Räuberhaupt­mann aber rief in seinem Unmute: «Er ist ein Narr und bleibt einer all sein Lebtag!»

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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