Der Gewalthaber von Törbel

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Im Gemeindekeller von Törbel liegt ein altes Weinfass, an dem die Reifen und Dauben nicht mehr zu unterscheiden sind. Niemand weiss, wie alt es ist; es soll immer im Keller gelegen haben und jedes Jahr neuzugefüllt worden sein. Neben der Kellerstutt be­findet sich ein runder Stein, auf den sich der Gewalthaber zu stellen pflegt, wenn er dem Gemeinderat etwas vorzutragen hat. Wenn zu Weihnachten oder am Fronleichnamstag die grosse Gemeinde beim alten herkömmlichen Trunk im Gemeindehaus tagt und den würzi­gen Wein von den sonnigen Gehängen an der Rhone aus alten Holzbechem geniesst, halten die Vorsteher ihre Sitzungen drunten im Keller. Zu gutem Anfang werden einige Becher versucht, dann wird dieses und jenes vorgebracht und erledigt, und wenn über dem Keller in der Gemeindestube der Redeschwall ansteigt und die Un­geduldigen mit den Nagelschuhen den Boden bearbeiten, bricht der Gewalthaber die Sitzung ab, was mit einem neu gefüllten Becher am besten geschehen kann, steigt von der Platte neben dem Fass herunter, reicht jedem Gemeinderat ein gefülltes Marjosi oder eine Doppelgrosskanne in die Hand, ergreift selbst eine und eröffnet den Zug in die Gemeindestube, wo das köstliche Nass mit Sehnen erwartet wird.

Vor vielen Jahren war der Baschi, ein braver, rechtschaffener Mann, Gewalthaber in Törbel. Viele Jahre war er schon im Amte, als ihm ein Missgeschick passierte. Er hatte der Gemeinde den Herbsttrunk mit Käse und Brot gespendet. Da im Rhonetal unten schon die Traube kochte, musste das Fass geleert werden. Allen Gemeindern wurden dieselben Bescheide eingeschenkt und Brot und Käse nach bestimmtem Gewichte ausgeteilt. Da blieben zuletzt noch eine Dop­pelkanne Wein und zwei schwarze Roggenbrote übrig. Baschi dachte, das sei zu wenig, um es unter alle zu verteilen, und für einen zu viel, und wem hätte er es geben sollen, ohne dass die andern ge­schimpft hätten! So nahm er die Brote unter den rechten, die Zinn­kanne unter den linken Arm, schloss den Keller ab und trug beides nach Hause. Lohn hatte er ja doch keinen für seine Mühe.

Nach Jahren starb der Gewalthaber, und die Gemeinde betrauerte ihn sehr, denn sie hatte ihm viel Gutes zu verdanken, und laut pries man an der Gräbt seine Gerechtigkeitsliebe und seine grosse Unei­gennützigkeit. Da ging eines Abends, als die Nacht schon hereinge­brochen war, ein Mann zu den Mühlen, um das Wässerwasser auf seine Wiesen zu leiten. Er hatte die Wasserfuhr noch nicht erreicht, als ihm drunten auf der Strasse ein Mann begegnete, der ihn auf­forderte, anzuhalten und ihn anzuhören. Der Wassermann, der den Fremden nicht kannte, sagte, er habe keine Zeit; er müsse sich be­eilen, das Wasser über die Matten zu leiten, da jede Minute kostbar sei und das Kraut darnach lechze. Als es gegen zwölf Uhr rückte und das köstliche Nass durch die Matten rieselte, gurgelte und sang, stand der Fremde wieder da und bat ihn um Gehör. Da hackte er die Wasserschaufel ein, richtete sich auf und hörte zu, was der Mann ihm zu sagen hatte. Und dieser begann: «Ich bin der verstorbene Gewalthaber Baschi; ich habe mir einmal bei einer Gemeindever­sammlung eine Doppelkanne Muskateller und zwei Brote im Ge­heimen angeeignet. Ich möchte meine Ruhe bekommen; darum gehe zu meinem Sohne und bestimme ihn, jedem Gemeinder so viel auszuteilen, als ich der Gemeinde gegen alles Recht entwendet habe!» Der Wässermann hörte andächtig zu, versprach, seinen Wunsch zu erfüllen und ging flugs nach Hause. Als er am nächsten Tag dem Sohne des Verstorbenen das Erlebnis mitteilte, gereuten diesen die vielen Brote und der schöne Wein. Er brachte nur eine Doppel­kanne und zwei Laibe aufs Gemeindehaus, indem er dachte, mehr habe der Vater sich nicht angeeignet, und mehr zu geben sei er nicht verpflichtet.

Des Abends sass er mit seiner Familie am Tisch, als es draussen klopfte. Er fuhr zusammen, liess den Maislöffel fallen und wagte nicht, selber zu öffnen. Er sandte den Knaben hin; dieser kam er­schrocken zurück und stammelte, der Grossvater stehe draussen - ganz gewiss sei es der Grossvater - und verlange, ihn zu sprechen. Der Vater erbleichte, lief gegen die Tür und rief mit unsicherer Stimme hinaus, er solle nur ruhig sein, er werde alles gut machen:

Am Tag darauf liess er den Wein und die Brote unter die Ge­meinder verteilen, eher zu viel als zu wenig, und der Geist des Gewalthabers Baschi war erlöst.

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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