Die Tänzerin

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Am Flumser Kleinberg, zu Portels, im Harzloch, ist ein Haus, das, wie viele ganz alte Häuser, eine grosse Kemenate oder einen Saal hat. In diesem Saal pflegten früher die Kleinberger Jünglinge und Jungfrauen zu tanzen. Als man wieder einmal im Harzloch tanzte, kam eine wunderschöne Jungfrau auf den Tanzplatz, Niemand kannte sie; aber alle Jünglinge fühlten sich zu ihr hingezogen und wünschten, mit ihr zu tanzen. Der erste gab sie keinem andern mehr und tanzte nur mit ihr. Um Mitternacht sagte sie zu ihm, sie müsse jetzt fort. Der Jüngling begleitete sie über die Höfe bis zum Bettlerbühl, wo im schauerlich tiefen Tobel unter der obern Naturbrücke, dem Gwelb, der Schilz vorbeirauscht. Da offenbarte sie ihm, sie sei ein unseliger Geist und müsse wandeln. Wenn er sie liebe und Mut und Selbstbeherrschung genug besitze, könne er sie erlösen. Sie müsse ihm als eine Kröte erscheinen, und er habe sie dann dreimal zu küssen. Beim ersten Kuss werde ihr Ansehen am erträglichsten sein, beim zweiten aber schon viel abscheulicher und beim dritten am entsetzlichsten. Beim dritten Kuss aber sei ihm gestattet, sie mit einem Tüchlein zu bedecken und nur durch das Tuch zu küssen. Dabei dürfe er unter keinen Umständen den Namen Jesu aussprechen. Der Jüngling gelobte, alles zu tun. Dann verschwand die Jungfrau, und es kam die Kröte. Der Jüngling überwand seinen Abscheu und küsste sie, worauf sie verschwand. Dann kam sie wieder, aber in viel hässlicherer Gestalt. Liebe und Mitleid siegten, und der Jüngling küsste sie. Zum dritten Mal erschien sie in so entsetzlicher Gestalt, dass der Jüngling vom Schrecken überwältigt ausrief: „O, Jesus!" Da gellte ein todestrauriger Wehschrei durch das Tobel. Ein Tannzapfen fiel vom Gipfel der nächsten Tanne zu seinen Füssen hin. Die Jungfrau stand wieder in menschlicher Gestalt da, von tiefem Schmerz erschüttert, und klagte, jetzt müsse sie noch so lange leiden, bis aus dem Tannzapfen, der soeben gefallen, eine Tanne zu ganzer Größe gewachsen sei. Aus den Brettern dieser Tanne werde eine Wiege gemacht, und ein Kind, das in diese Wiege gelegt werde, sei berufen, sie zu erlösen. Dann verschwand sie. Der Jüngling aber besuchte keinen Tanz mehr.
J. B. Stoop

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 333, S. 185f

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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