Die Kirche von Isérables

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Die Bewohner der Gemeinde Isérables sollen in früherer Zeit recht einfältige Leute gewesen sein, und man erzählt sich von ihnen die lustigen Schildbürgerstücklein.

Sie hatten mitten im Dorfe eine schöne Kirche gebaut mit einem viereckigen, oben in einen spitzen Helm auslaufenden Turm. Jedermann, vorn Präsidenten bis hinunter zum armen Hirtlein war ausser sich vor Freude, als die Kirche zur Ehre und Zierde des kleinen Bergdorfes fertig da stand, und ein Fest nach dem andern wurde gefeiert. Der Kuhhirt war so stolz auf den Neubau, dass er seine Herde nicht mehr den alten Wiesenweg führte, sondern mitten durchs Dorf an der Kirche vorbei. Da geschah das Unglück.

Eine alte Kuh, eben just aus dieser Herde, zeigte eines Tages so wenig Respekt vor dem Gotteshaus, dass sie hart bei der schönen, weiss getünchten Seitenmauer stehen blieb und etwas fallen liess, das eher in den Stall hinein gehörte, als neben die neue, prächtige Kirche. Die Dörfler konnten sich kaum fassen, als sie vernahmen, was für ein Unglück geschehen war, und sie liessen alles im Stich, kamen in vollen Scharen daher und schauten mit entsetzten Augen auf den runden, schwarzbraunen Kuchen, der das neue Gebäude verunstaltete. Hätte man den Hirten grad zur Hand gehabt, er wäre zum mindesten gesteinigt worden. Nun beriet man, was zu machen sei, denn eine solche Entheiligung des Allerheiligsten konnte nicht geduldet werden. Der Präsident hielt diese Angelegenheit für wichtig genug, die Gemeinde zu besammeln, und als die Stimmfähigen alle im Schulhaus waren, hielt er die längste Rede, die man je von ihm gehört hatte. Er führte aus, dass man nicht länger mehr sehen könne, wie das Gotteshaus neben einem solchen Unrat stehen müsse und dadurch verunreinigt werde. Er möchte darüber ihre Meinung vernehmen, darum habe er sie zusammenberufen.

Der Fall schien allen sehr verwickelt, und man stritt sich lange hin und her, was da wohl zu tun sei. Die Weinkannen, die fleissig die Runde machten, lösten die Zungen wohl, aber niemand konnte einen Vorschlag machen, der zu einer glücklichen Lösung geführt hätte. Da erhob sich einer der Schlausten aus dem Dorfe, der bis dahin geschwiegen hatte, und sagte: «Nach langem Grübeln ist mir wie eine Eingebung von oben ein Mittel in den Sinn gekommen, das schlage ich euch vor, denn es ist sehr einfach und wird zum Ziele führen. Also hört: Wir stellen die Kirche zehn bis zwanzig Meter weiter rückwärts, dort wird ihr der Kuhplatsch nichts mehr schaden. Das ist keine grosse Aufgabe für eine Gemeinde wie Isérables. Wir verschaffen uns einen langen, starken Strick, schlingen ihn dem Turm, der ja an die Kirche gebaut ist - ihr seht, wie weise wir da gehandelt haben - also wir schlingen ihn dem Turm um den Leib. Die vom Unterdorf ziehen an dem einen, die vom Oberdorf an dem andern Ende, und in einer Stunde ist die Kirche zurückgestellt!» Die Gemeinde horchten atemlos zu und stimmten diesem köstlichen Einfall durch Nicken und Gemurmel bei: «Ja, ja, der Aloys ist halt doch der Gescheiteste unter uns; das ist die kürzeste und einfachste Art der Lösung, so geht’s gut, so geht’s gut!» Ein schwerer Stein war jedem vom Herzen gefallen, und hier und dort vernahm man das Wort, bei der Neuwahl des Gewalthabers brauche man dann seinen Mann nicht lange zu suchen. Die Sitzung wurde aufgehoben, und nun handelte es sich zunächst darum, das grosse Seil herzustellen.

Der Präsident übernahm den Auftrag und befahl jedem Hausvater, ihm bis zum nächsten Morgen zehn Pfund der besten Schaf-wolle zu liefern. Als die Wolle beisammen war, liess er sie spinnen und winden, und nach einigen Tagen war das Sefl fertig. Es war von Armsdicke und reichte von einem Ende des Dorfes bis zum nächsten. Als die Gemeinder wieder besammelt waren, schlang man das Seil dem Turm um den Leib, und nun stellte sich die eine Dorfhälfte an das linke, die andere an das rechte Seil. Der Präsident postierte sich auf einen benachbarten Hügel und gab von dort aus mit einem Kuhhorn das Signal zum Anspannen und Ziehen. Beim ersten Zeichen zog jeder aus Leibeskräften. Das Seil gab einen surrenden Ton und riss beim ersten Ruck. Die beiden Spielhälften rollten gleich wilden Schlangen fort, und die Menschen, die dran hingen, purzelten übereinander, kollerten den Berg hinunter und ballten sich zusammen zu einem Menschenknäuel, der erst unten in der Schlucht zum Stillstand kam. Die meisten waren in das Seil verwickelt, Arme und Beine lagen durcheinander und es ging an ein Zappeln und Schreien, dass sich ein Stein hätte erbarmen müssen. Der Knäuel schob sich immer dichter zusammen, da die untern sich an den Kleidern und Gliedern der oberen anklammerten und nicht  losliessen.

Sobald der Präsident auf dem Hügel sich von dem Schreck erholt hatte, sprang er mit seinem grossen Stock den Berg hinunter, hieb nach links und rechts und zwang die, welche die andern zurückhielten, ihre Hände loszulassen. Als der Knäuel sich löste, lagen mehrere Tote und Verwundete herum. Langsam stiegen die Gemeinder den Berg hinauf und beschlossen, die Kirche dort zu lassen, wo sie stehe, da es wohl göttlicher Wille sei, dass sie an ihrem Platze bleibe; doch sollte der Unglückskuchen wenigstens mit Weihwasser bespritzt werden, damit er die Kirche nicht gefährde. Als der Sigrist eben das Weihwasserbecken brachte, öffnete sich der Kreis, und der Hirte kam im schnellsten Bergschritt dahermarschiert. Er hatte von der ganzen Geschichte nichts gewusst, denn morgens früh zog er stets mit der Herde davon, kehrte erst abends spät nach Hause und legte sich nach dem Essen sofort ins Bett. Seine blöden Wasseraugen und der grosse braune Kropf am Hals deuteten darauf, dass er nicht recht gescheit sein musste.

Der Ton des Kuhhorns war hinauf zu seinen Weiden gedrungen und hatte in ihm die Meinung erweckt, es sei ein grosses Unglück geschehen. Da verliess er ohne Zaudern die Herde und lief dem Dorfe zu, um zu helfen. Als er sah, wie alle auf das schwarze Unding deuteten, griff er mit beiden Händen zu und entfernte den dürr gewordenen Sonnenkuchen von dem heiligen Gebäude. Dann scharrte er etwas Erde über den dunklen Flecken am Boden und ging, als ob nichts geschehen wäre, mit Lallen und Grinsen davon. Die Gemeinder blieben wie angewurzelt auf demselben Fleck, mit schlaff herabhängenden Armen und offenen Mäulern, und es hatte den Anschein, als ob sie auf einmal die Sprache verloren hätten.

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

 

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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