Das Messamt auf der Hungerlialp

Land: Schweiz
Kategorie: Legende

Dem Pfarrer im Tale drunten war längst aufgefallen, dass die Sennenfamilie der Hungerlialp sich nie bei der Messe zeigte. Die Alp lag tief hinten im Bergtal, und die Leute hätten viele Stunden wandern müssen bis zur Kirche, aber das ist im Wallis kein bedeutsames Hindernis, haben doch die Sennen in frühern Zeiten einen noch grössern Weg zurückgelegt und sind nie zu spät zur Messe gekommen. Der Pfarrer hätte sich auch zufrieden gegeben, wenn die Familie von der Hungerlialp nur ein oder zwei Mal im Jahr erschienen wäre, aber grad gar nie, das konnte er nicht fassen. Als zu Mariä Himmelfahrt wiederum niemand kam, griff er zum Bergstock und stieg hinauf zur Alp, um den Familienvater zur Rede zu stellen.

Als er die braunen Holzhütten erreicht hatte, fand er nur die Kinder zu Hause. Er fragte, wo die Eltern seien und da sagten sie: «Zur Messe», und wiesen gegen den hängenden Wald hinauf. Der Pfarrer schaute betroffen um sich und fragte: «Was, zur Messe! Wo steht denn da oben eine Kirche oder eine Kapelle?» Da staunten die Kinder den Pfarrer an und wussten nichts zu erwidern.

Das Älteste sprang ins Haus, holte eine Schüssel Milch, Brot und Käse und bot es dem schwarzen Herrn an. Der Pfarrer setzte sich ins Gras, erlabte sich an dem einfachen Mahl und wartete auf die Eltern. Nach einer Weile erschienen sie, beide sonntäglich gekleidet, der Mann im frischen Hemd, die Frau mit einem neuen bunten Kopftuch. Sie grüssten den Pfarrer freundlich und sagten, es freue sie sehr, dass er ihnen auch einmal die Ehre erweise. «Ja und ihr», entgegnete der Geistliche und zog die Augenbrauen zusammen, «warum kommt ihr nie zur Kirche und lebt hier oben wie das Heidenvolk?»

«Hochwürden, wir kommen ja grad vom Messamt», sagte der Senne, «und was ich hier oben habe, brauche ich nicht im Tale unten zu suchen; es ist halt eine schöne Strecke und der Weg dazu noch recht schlecht!»

Der Pfarrer schüttelte den Kopf ob den sonderbaren Leutchen und schwieg. Die Frau hatte unterdessen das Essen gekocht, und als sie sich zu Tische setzten, schien es dem Pfarrer, als ob die Platten klein und nur halb voll seien, aber das war wieder recht sonderbar und unerklärlich; obschon er wie die andern mit grossem Appetite zugriff, wurden die Platten nicht leer, und sie gingen doch alle satt vom Tische.

Nach dem Essen nahm der Senne den Pfarrer bei der Hand und sagte: «Hochwürden, wenn es Euch recht ist, so will ich Euch zur Messe führen!» Der Geistliche war damit einverstanden und dachte, das werde eine schöne Messe sein da oben in der Bergwildnis. Sie stiegen durch helles Wiesengrün und durch den schwarzen Tannenwald, über dem die Schneegipfel erglänzten und erreichten eine kleine Waldwiese. Ringsum standen die schönsten Lärchen und Arven, in denen die Vögel sangen. Über der Wiese wölbte sich die blaue Himmelsglocke. Mitten in dem Hain lag ein grosser, flacher Stein mit einer handtiefen Höhlung, die mit Wasser gefüllt war.

«Seht Ihr das Loch in der Mitte?» sagte der Senne, «darin ist das Himmelswasser oder das Weihwasser, wie Ihr es nennt!» Um den Stein blühten wilde Narzissen, rosenrote Nelken und anderes buntgefärbtes Blumenvolk. «So, nun stellt Euch auf den linken Fuss und guckt mir über die rechte Schulter!»

Der Pfarrer tat es. «Was seht Ihr?»

«Den Himmel!» rief der Pfarrer in heller Verzückung, und seine Augen öffneten sich weit und tranken von dem Himmelsglanz und der höchsten Seligkeit.

«Jetzt wendet Euch! - Wendet Euch!»

Der Pfarrer hörte nichts, so sehr war er in das himmlische Bild versunken. Endlich trat er zurück und liess die Hände sinken.

«So, jetzt stellt Euch auf den rechten Fuss und guckt mir über die linke Achsel!» fuhr der Senne weiter.

Der Pfarrer tat, wie ihm geheissen wurde. «Was seht Ihr?»

«Ich sehe die Hölle!» rief der Pfarrer, und er riss die Augen noch weiter auf, und der Graus der Hölle spiegelte sich auf seinem Gesichte wieder. Der Pfarrer liess die Hände sinken, faltete sie und machte ein sehr ernstes Gesicht. Bevor er die Wiese verliess, tauchte er die Spitzen der Finger ins Himmelswasser und bekreuzigte sich, wie wenn er aus der Kirche träte. Dann ging er mit dem Sennen in den dunkeln Wald zurück, und unterwegs sprach er kein Wort.

Bei den Hütten nahm er Abschied von der Frau und von den Kindern, drückte ihnen gütig die Hand und blickte sie gar freundlich an. Der Senne geleitete ihn noch ein Stück weit durchs Tal. Beim Abschied sagte der Pfarrer: «Ja, ja, ihr seid fromme Christen da oben auf der Hungerlialp, das habe ich nun heute gesehen, fahrt nur zu mit euerm Messamte, ihr bedürft meiner nicht dazu!» Er schüttelte dem Bauer die Hand und schritt in Gedanken versunken bergab.

Bald darauf gab der Pfarrer sein Amt auf und reiste ins Turtmanntal, wo er elf Jahre lang als Einsiedler lebte.

Einmal fingen in Leuk mitten in der Nacht die Glocken zu läuten an, und da hiess es, es müsse etwas Besonderes geschehen sein. Einige Männer gingen tags darauf ins Turtmanntal hinein; da fanden sie den Pfarrer tot in seiner Klause.

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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