Die Alpspende

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

«Kennt Ihr die Geschichte von der Alpspende, Herr?» « Nein, die weiss ich nicht.»

«So geht zu Hänselpeter im Ried! So wie der sie erzählt, verstand es nur noch die selige Katrin. Das war seine Muhme, und für einen Schluck Muskateller fabelt er, so lange Ihr wollt.»

Die herzensgute Kaplansköchin packte mir das Frühstück und eine Flasche wohl verspündeten Weisswein in den Rucksack, und da grad die Ziegen ausrückten, so marschierte ich mit dem Hirten und seinem Rudel in bester Gesellschaft nach Ried. Er wohne eine Stunde weiter oben in Weissenried, hiess es, einem Weiler auf luftiger Terrasse, zu dem ich ungesäumt emporklomm, während die niedern Vierbeiner über das Bachbrücklein wuselten und schattenhalb in den stotzigen Gefilden dem Futter nachgingen. Vor einem mit Kohl und Schotenerbsen bepflanzten Gärtchen las ich auf dem Giebel gross angemalt seinen Namen. Er war aber nicht daheim, sondern im Heumahd, nochmals eine Stunde bergauf, und so bog ich um die Ecke und grüsste eine Frau, die auf der Treppe kauerte und am braunen Wollstrumpf arbeitete. Bei meinem Anblick schrak sie zusammen und barg die Hand flink unter der Schürze.

«Guten Tag, Grossmutter.»

«Gott dank Euch.» Sie sah mich von unten herauf an, wie einen, dem man nichts Gutes zutraut.

«Meinetwegen raucht nur weiter», beruhigte ich, zog meinen Beutel aus der Tasche und bot ihr Tabak. «Das Rauchen vertreibt die Grillen.»

«Die Pfeife ist mir grad erloschen», sagte sie verlegen und strich mit der Hand über den zahnlosen Mund. Sie nahm die kurze Gipspfeife unter der Schürze hervor, stopfte und blies den Rauch mit Wohlbehagen. «Der Tabak raubt mir das Kopfweh und ist überhaupt eine gute Sache.»

«Könnt Ihr mir sagen, wo ich den Hänselpeter antreffe?» «Droben im Netzbord beim Heuen.»

«Wie alt ist er denn?»

«Vier Jahre älter als ich, und ich gehe im Achtundsiebzigsten.» «Und er schwingt noch die Sense?»

«Er ist immer noch dabei und hilft mit den Augen.»

Über kurzgeschorene Matten holperte der fussbreite Pfad hangauf, erlistete in frechen Sprüngen die Höhe. Von Heuschrecken umschwärmt, erreichte ich ein Gehölz, rastete und stieg weiter zu den Heuern und einem alten Mann, der abseits kauerte und zuschaute. Froh, ihn endlich gefunden zu haben, grüsste ich und setzte mich an seine Seite.

«Der Hänselpeter bin ich nicht», sagte der Greis, «der ist eine Stunde weiter oben im Netzbord, wo Wiesland und Kuhweide Anstösser sind.»

Also gut, höher hinauf! Die Gletscher silberten, die Felsen sprühten, und der Wind, trunken von dem berauschenden Heuduft, blies bald von Ost, bald von West. Endlich war ich bei Hänsel und diesmal ganz gewiss. Er kauerte am Wegrand, den formlosen Wetterhut in die Stirne gezogen. Scheu glommen seine feuerroten Äuglein aus dem bärtigen Gesicht, das erdwärts hing, seine Hände zitterten. Ich überbrachte ihm einen Gruss vom Herrn Kaplan in Kippel und steckte die Pfeife in den Mund. Seine buschigen Brauen wippten auf und nieder, er sagte kein Wort darauf.

«Ihr macht gutes Heu dieses Jahr», begann ich. «Es ist doch eine mühsame Beschäftigung und eine Hatz, will man alles trocken einbringen.»

Er bog den Kopf tiefer gegen die Knie und schwieg. Vielleicht ist er übelhörig, da muss ich mich kurz fassen. Ich berührte seine Schulter und schrie ihm zu: «Man vernimmt nichts mehr von bösen Geistern, nicht wahr? Von Unwesen und Gespenstern, die das Vieh verhexen und aus dem Stafel jagen. Das war früher anders.»

Bedächtig drehte er den Kopf und glotzte mich an.

«Ich sammle nämlich Sagen, Geister- und Hexengeschichten und die» -

Wie ein Junger schoss er auf, raffte die Sense und wackelte fluchend und schimpfend den abschüssigen Weg hinunter. Ich blieb allein im Kraut, grübelte über sein sonderbares Benehmen und ging langsam der Sennhütte zu, um den brennenden Durst zu löschen.

Die Sennerin führte mich ins Gemach zu ihrer Schwester und bewirtete mich mit Brot und Käse und aufgewärmter Milch. Der alte Kauz sei zuweilen nicht gut im Kopf, sagten sie und hasse die Fremden. Die Geschichte von der Alpspende aber könnten sie mir auch erzählen, so gut wie Hänselpeter, und so zog ich den Kalender aus der Tasche und spitzte den Blei. Für das gesellige Stündlein und die Sage mich bedankend, nahm ich Abschied und wählte den Pfad schräg ab, der kurzweg auf Kippe! steuert. Bei dem ersten Haus und Brunnen unter dem Waldsaum erinnerte ich mich der Weinflasche, die ich noch im Sacke trug und kühlte sie unter der Röhre. Nicht lange, so kam einer heraus, justament Hänselpeter, der mit den Händen Mücken fing und etwas brummelte, das ich nicht verstand.

«Ein Schluck gefällig?» - rief ich. «Es ist Muskateller, aus den Kaplaneireben.»

«Lieber fechten», raunzte er und humpelte wieder ins Haus. Ich lachte des Narren, entkorkte die Flasche und machte es mir auf einer Sitzvorrichtung bequem. Es war dämmrig geworden, die Abendlichter auf den Zacken des Torrenthornes verglühten, und ich hatte versprochen, mit militärischer Pünktlichkeit zum Essen mich einzufinden.

Zum zweitenmal erschien Hänsel, ein Glas zitterte in seiner Hand.

Ich goss ein und hielt ihm das volle Glas entgegen. Hastig leerte er es, ging nochmals ins Haus und brachte Käse und Brot.

Ich war gewitzigt und pochte nicht mehr an das Schatzkämmerkämmerchen seiner Erinnerungen. Wie von selber ging es auf, und bald sprudelte es von Hänsels feuchten Lippen, klar und jugendfrisch wie aus der Brunnenröhre, und das Schönste von allem war die Sage von der Alpspende. Er redete nicht, wie es hier im Buche steht, viel besser und kurzweiliger, wie nur die Alten, die aus dem Bilderbuch der Natur ihre Kenntnisse schöpften, noch erzählen konnten.

In alter Zeit waren die Alpen Faldum, Resti und Kummen die fettesten Weiden des Lötschentales, bis ins Gefelse hinauf in Saft und Üppigkeit. Dreimal des Tages musste gemolken werden. Die Sennen freuten sich nicht mehr ihres Wohlstandes, wie es heute üblich wäre, und beteten nicht mehr zu Gott, sie nahmen den Überfluss wie Regen und Schnee, prahlten und brüsteten sich mit den schweren Käslaiben und Butterstollen und verlästerten Himmel und Erde. Der schlimmste von allen war der Gewalthaber, der seinem Gesinde auch am Herrgottstage keine Musse gönnte, die Gemeinde um ihre Gelder betrog und durch List und Falschheit den besten Teil der Alp an sich riss. Nach seinem Tode entdeckte man den Betrug, und da seine Angehörigen ausser Stande waren, den Schaden gut zu machen, musste der Verstorbene umgehen. - Um die Sommerwende erschien er als böser Geist in den Ställen von Resti, Faldum und Kummen, schreckte das Vieh ins Freie, mit Haiho über Berg und Tal und kam erst nach drei Tagen auf die Alp zurück. In den Klauen der Rinder hatten sich Weinlaub und Weizenähren gefangen, so tief hinunter war er mit der Herde gefahren. Die Grasnarbe verkümmerte, das Futter wurde spärlicher und sauer, die Reichtümer schwanden, und niemand wusste Rat, wie man den Kobold vertreiben könnte.

Da war ein verwegener Senne, Namens Pauli, der weder den Tod noch den Teufel fürchtete, sowenig als Hagel und Sturm. Er erbot sich, dem Geist aufzupassen und in den drei heiligen Namen ihn zu stellen. Als der längste Tag erschien, legte Pauli sich auf die Lauer, und zumal die beiden ersten Nächte ohne Störung verliefen, schlief er einige Stunden am Tage, um Kräfte zu sammeln für die dritte Nacht, denn nun musste der Geist sich offenbaren. Es war eine von den windklaren, stillen Nächten, die die Auen segnen und den Blumen und Halmen silberne Häubchen weben.

Nichts regte sich um die Hütten. Im Grunde blitzte der Schaum des Wildbaches, der sein Wanderlied murmelte. Pauli überlegte: Wenn der Geist auftaucht, so schlage ich dreimal das Kreuz und rufe ihn im Namen Gottes an. Mitternacht war vorbei, und ihn schläferte. Um nicht einzunicken, zählte er die Sterne, die sich stetig mehrten und jedesmal eine andere Summe ergaben. Wirr und dumm wurde ihm zumute, er schloss die Augen und schlummerte ein. Jählings fuhr er zusammen. Ketten klirrten, Hufe stampften. Er stützte sich auf, wischte den Schlaf aus den Wimpern und sah eine fahle Gestalt, die blitzgeschwind von Stall zu Stall huschte. Er wollte aufspringen, seine Knöchel versagten. Er wollte sich bekreuzen, da stand der Senn vor ihm, ein unheimliches Wesen mit hohlen Augen und bartloser, erloschener Miene und wischte ihm eine Salbe über die Schläfen. Er hörte seine scherbende Stimme:

«Hei lobe bruni Chueh, lauf em Mutzlihore (Mutthorn) zue.»

Bis zu den hintersten Ställen dringt der dumpfe, gläserne Ruf. Die Tiere quetschen sich aus den Stadeln, brüllen in die Nacht hinaus, ringeln die Schweife, raufen und bocken und setzen über Balken und Steine. Pauli will besänftigen, seine Kehle ist verriegelt. Schon ist der Trupp bei der obersten Hütte versammelt und rennt, mit dem Gesellen an der Spitze, den Berg hinauf, wie vom Teufel gepeitscht, dem Mutthorn zu. Vom Sturmwind mitgerissen, fliegt Pauli der Herde nach, am Mutthorn vorbei, in rasender Geschwindigkeit über die flachen Eisfelder des Gletschers, über stürzendes Geröll, hinunter zum Steinbett der Kander, an glatten Steilwänden wieder empor, ohne Rast, ohne Weile. Tannadeln kitzeln seine nackten Sohlen, Weiden und Gehöfte weichen in grausige Tiefen zurück. Im Bogen saust die wilde Jagd über den Bergsattel, über Triften und Matten, dunkle Wälder, Dächer und Friedhöfe, reifende Rebstöcke, Korn- und Rübenäcker, den ziehenden Fluss, wiederum über Weizen und Reben, Dörfer und Weiler und schwebend empor zu den Gräten und Felsköpfen, zwei Tage und drei Nächte zwischen Himmel und Erde, ohne Halt und Pause.

Am dritten Tag lagen die Tiere Haupt an Haupt vor den Ställen, mit hängender Zunge, bachnass, dampfend und zitternd, und Pauli war es, als ob er drei Wochen im Fegefeuer gelitten hätte. Die Kleider fetzten, die Glieder, zu bleierner Schwere erstarrt, rüttelte das Fieber. Die Sennen betteten ihn auf Stroh und lasen die Ähren und das Weinlaub aus den Klauen der Kühe, die drei Tage lang keinen Halm anrührten und nicht einen Tropfen oder nur rote Milch in den Kübel spritzten. Dem Tode näher als dem Leben, wurde Pauli im Herbst ins Tal getragen und bei dem ersten Winterschnee der Erde übergeben.

Entschlossen, alles zu versuchen, was den Unhold vertreiben könnte, sandte der Rat zu den Kapuzinern, die ein weisses Pulver gaben, das man vor die Ställe hinstreute. Siehe, auch im nächsten Sommer war der spukende Senn wieder da und raste mit der Herde davon, doch nur eine Nacht und einen Tag. Das Pulver war offenbar gut, aber nicht kräftig genug. Was endlich Erlösung brachte, war die Alpspende, die man zum Wohle der Armen bestimmte, indem jedes Jahr einmal der Ertrag eines Tages, zu Käse und Butter gemodelt, im Dorfe Ferden ausgeteilt wurde. Der böse Geist war gebannt, das Volk atmete auf.

«Das ist keine Sage, bare Wahrheit», schloss Hänselpeter die Erzählung. «Heute noch ist die Alpspende im Schwang, und es erhält jeder, der dazu berechtigt ist, am Ostermontag Käse und Butter und als Zugabe ein Weissbrot samt einer Kanne roten Weines zum Gedächtnis an die Weizenähren und die rote Milch. Meine Grossmuhme hat den Pauli gekannt, und jetzt geh ich den Morgen suchen. Behüt Gott wohl, Herr!»

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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