Von der Nadel zum Zepter

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

In seiner Werkstatt fädelte der Meister Nadelgix den letzten Knopf an eine Hose. Die Vögel sangen auf den Holunderbüschen, und zum Fenster herein surrten die Wespen, sumsten dem emsigen Handwerksmann um die Nase, und von dem Schnupftabaksgeruch behelligt, flogen sie weiter und naschten an dem Kuchendreieck, das der eigentliche Grund ihres Besuches war.

Er wehrte mit der Hand, mit dem Ellenstecken und regte sich in einen grimmen Zorn hinein; denn alle Abwehr war vergebens, die frechen Immen nahmen zu an Zahl, und jählings schoss ein dunkler Schwarm durchs Fenster und liess sich auf dem Kuchen nieder. «Ihr unverschämten Satane, euch will ich!» Sachte stegerte er vom Tisch herunter, fasste die Hose an beiden Stössen und zog auf - ein Klatsch, der Teller zerspritzt an die Decke, und von der Wucht des Schlages und dem Mordsklapf ohnmächtig geworden, stürzt das Schneiderlein zu Boden, erholt sich langsam, fügt die Scherben zusammen und staunt über das Gemetzel, das er unter den Wespen angerichtet hat.

Mit spitzen Fingern las er sie zusammen, und als er den Haufen zählte, waren es hundertsieben im ganzen, nicht eine mehr, nicht eine weniger. Erhielte er für jede Wespenleiche einen Taler, so könnte er ein beschauliches Leben führen. Das ist eine furchtbare Niederlage, ein unerhörter Sieg, das muss er kundtun, das sollen die Nachbarn, was sag ich, alle Menschen erfahren, das macht ihm keiner nach!

Hurtig schlüpfte er aus der Ärmelweste und nähte von den Resten der zitronengelben Hose fingersdick auf den Rücken: 107 auf einen Streich. Das tönt wie ein Heldenlied, das donnert wie Lawinenhall. Schmunzelnd zog er die Weste an, warf Nadelzeug, Schere und Bügeleisen in die Hölle, packte Käs und Brot in die Tasche und ging auf die Weltreise.

Mit offenem Munde gafften die Leute, die Buben liefen ihm nach und schrien: «Oo - oo - ist das ein Herkules, ein Simson - hundertsieben auf einen Streich - OO - oo!» Das gab ihm Mut und Zuversicht und die Gewissheit, zu grossen Taten berufen zu sein.

Als er unter dem Torbogen durch in die Stadt marschierte, liefen die Bürger zusammen, und er glaubte, die Kunde von seinem Heldenstück habe ihn übereilt und das Volk rüste zu seinem Empfang.

«Was ist das für ein Rummel, wer soll geehrt werden?» richtete er sich an einen Spiesser, der sein Bäuchlein rundete, und mit verstelltem Gleichmut zupfte das Schneiderlein die Weste zurecht.

«Du jedenfalls nicht, so wenig als ich, überhaupt niemand. Wer wollte sich erdreisten, die Bären im Wald abzumorxen? Das müsste schon ein General sein, ein Hüne, ein Held!»

«Und der Preis? Wird ein schöner Preis geboten?»

«Das will ich meinen! Das Schönste und Beste, was der König zu vergeben hat, seine bluteigene Tochter.»

Das war die erste grosse Überraschung seiner Reise. Entschlossen, den Kampf mit den wilden Bestien aufzunehmen und Probe seiner Kraft und Heldenhaftigkeit abzulegen, ging er zum Hofmeister, nannte seinen Namen und den Zweck seines Besuches, liess einen Käfig aus Stahl und Eisen anfertigen, verlangte eine Spritze, flüssiges Pech und Feuerzeug und rollte auf dem Gerüstwagen in den Wald hinaus. In grosser Eile luden die Träger den Zwinger ab und sprengten zurück, indessen Nadelgix sich in den Käfig begab, das Gitter sorgsam schloss und geduldig auf die Bären harrte.

Es knackt und knistert im dürren Reisig, es brummt und trottet daher, und ein gewaltiges Tier reckt sich an den Stäben hoch, schnüffelt und brüllt so fürchterlich, dass die Erde bebt und das Laub von den Bäumen raschelt. Kerzenblass presst Meister Zwirn sich an die Rückwand, klappert mit den Zähnen und erholt sich erst, als er inne wird, wie solide Eisen und Stahl und der Zwinger widerstehen. Behende greift er nach der Spritze, ölt dem Petz das Fell ein und wirft ihm ein brennendes Scheit an den Kopf. Ein paar Sprünge, und das Tier bricht tot zusammen. Auf diese Weise brachte er auch die andern Bären ums Leben, das schwierige Abenteuer war glänzend gelungen. Ein braunes Reh schlich arglos näher, es war nichts mehr zu befürchten, die Bären lagen alle auf der Strecke. Er überbrachte dem Hofmeister die freudige Botschaft, sprach beim König vor und heischte mit kecker Stimme seinen Lohn.

 

Der König betrachtete das Männchen, seine strohgelben Wimpern, den dünnen Hals und Brustkorb und die Gliedmassen, und sein Versprechen gereute ihn. «Viel zu leicht war die Aufgabe», sagte er, «ehe dich meine Tochter nimmt, musst du noch eine zweite Probe bestehen! »

«Und das wäre?»

«Gen Osten treiben Waldriesen ihr Unwesen, überfallen meine Untertanen, rauben und plündern und sind der Schrecken meines Volkes. Zieh aus und schlag sie nieder, dann bist du wirklich ein Held und meiner Tochter würdig! »

Nadelgix leckte den zerstochenen Zeigefinger, schob die Ärmel zurück und drehte sich auf dem Absatz herum. «Also gut, der Preis ist hoch und begehrenswert, ich werde ihn verdienen!»

Er steckte einen Brocken frischen Molkenkäse in die Tasche und marschierte erhobenen Hauptes dem Walde entgegen, der vor dem östlichen Tor begann und endlos sich dehnte. Einsam war die Strasse, von keinem Menschen begangen. Plötzlich ein wieherndes Gelächter, Feuerschein und der Duft von Gebratenem. Er geht auf das Feuer zu und wünscht freundlich guten Morgen.

Die rauhbärtigen Gesellen rissen sich an den Ellbogen und witzelten über den haselgertendünnen Nadelgix. Der Bratenwender sprang auf die Füsse und rief: «Noch etwas dünner, und man könnte ihn saufen. Zwölf Hasen schmoren am Spiess, her mit dem dreizehnten, ich verschlinge zwei mit Haut und Haar!»

Nadelgix wich einige Schritte zurück, griff in seine Tasche und stotterte: «Nimm dich in acht, ich bin stärker als ihr alle! Seht diesen Kristall, ich zerdrücke ihn mit den Fingern zu Wasser und Staub!» Damit presste er vor ihren Augen das Ziegerstücklein, bis es tröpfelte und nur ein Klümpchen in seiner Hand zurückblieb.

Die Riesen brüllten: «Das hat er gut gemacht, famos, famos!

Steine zerreiben wir auch in der Tatze, doch ist noch nie ein Tropfen Wasser geflossen. Wie macht er's nur? Sie ersuchten ihn, am Schmause teilzunehmen und lümmelten mit ihm durch den Wald fort. Der Bratenwender bog eine Birke zur Erde und forderte Nadelgix auf, die Spitze zu halten. Er traute seiner Kraft nur halb und wollte ihn in die Patsche bringen.

«Auf solche faxen lasse ich mich nicht ein», rief Nadelgix verächtlich, «ich will euch jetzt zeigen, was Kraft und Behendigkeit ist!»

An das Birkenende geklammert, flog er in einem prachtvollen Bogen durch die Luft und fiel so glücklich auf die Füsse, dass er keinen Schaden nahm. Die Räuber hielten sich den Bauch vor Lachen, stampften und versuchten das Kunststück nachzumachen. Die Bäume waren alle zu schwach und zu dünn für diese Kolosse, und deshalb klommen sie auf einen Felsgrind und sprangen einer nach dem andern über den ersten Baum, purzelten und brachen das Genick. Wo noch einer zappelte, ging er hin und zerhackte ihm die Schläfen. Als er die Riesen erledigt sah, beinhah wie die Wespen zu Hause, lief er zurück und rühmte: «Was u geboten, Ist geschehen mit leichter Mühe habe ich die zwölf Riesen umgebracht. Danke dem Retter des Landes und lass dem Wort zur Tat werden!»

Mit saurer Miene Iiess der König die Hochzeit ansagen und in aller Stille ohne Pomp abhalten.

Einige Tage nach der Trauung fragte.der König seine Tochter, wie gehe und ob sie mit dem Gatten zufrieden sei. Sie rümpfte die Nase und sah unfroh auf die Spitzen der goldenen Schühlein: «Ganz und gar nicht bin ich zufrieden, du hast mir ja einen Schneider zum Gemahl gegeben, und ich bin doch eine Prinzessin!»

Der König bedauerte sein Kind und erteilte dem tapfersten seiner Generäle den Befehl, 108 Soldaten aufzubieten und Nadelgix den Garaus zu machen.

«Warum grad 108, wenn ich fragen darf?»

«Er litzt 107 auf einen Streich, also muss es einer mehr sein, wenn du ihn meistern willst.»

Der General liess zu der befohlenen Truppe auch eine Batterie und das Garderegiment alarmieren und umzingelte das Haus des Prinzgemahls. Von seinem Stabe begleitet, trat er ins Zimmer und forderte ihn zur Übergabe auf.

Nadelgix, der grad von einer Fleischpastete zehrte, kratzte mit der Gabel im Haar und entgegnete kaltblütig: «Vorsicht, meine Herren, ich bin auf der Hut!» Er stand auf und drehte sich gegen das Fenster. Als die Offiziere seine Rückenschrift entzifferten, stahlen sie sich stumm hinaus und liessen die Soldaten wieder einrücken.

Immer wieder fiel der Ritter von der Nadel in seine frühere Beschäftigung zurück, nähte Knöpfe an, bügelte den Dienern die Hosen, änderte eigenhändig den Mantelkragen seiner Frau und hockte am liebsten mit übergeschlagenen Beinen auf dem Tisch.

Der König erkundigte sich nach dem Befinden seiner Tochter und vernahm unerfreuliche Dinge.

«Er ist halt doch ein Schneiderlein, ein schwaches, kraftloses Männchen», beklagte sie sich, «nicht einmal imstande, den Eierkuchen in der grossen Pfanne zu kehren. Seiner Stärke misstrauend, befahl ich ihm: Marsch, in die Küche, zeig deine Muskelkraft! Wie hat er sie gezeigt, so grossartig, er war nicht einmal fähig, die Pfanne aus dem Feuer zu heben! Da sagte ich: Küchengrudel, komm her und wende mir den Eierkuchen! Küchengrudel fasst den Stiel, ein Schwung und tätsch! es ist geschehen. So einen Mann hab ich!»

Diesmal erhielt der Feldmarschall den Auftrag, den Schneider in eine Schlacht zu verwickeln und tot auszuliefern.

Als der Kriegsplan ruchbar wurde, verstopfte Nadelgix sich die Nase und schritt auf das Marsfeld hinaus, auf dem es von Truppen wimmelte. Adjudanten und Ordonnanzen jagten auf und ab, Säbel und Tressen funkelten im Morgenlicht, die Offiziere hielten Kriegsrat und bestimmten auf die Minute genau den Zeitpunkt des Angriffs, als der Feind gemächlich daherstiefelte.

Aller Augen wandten sich, und der Feldmarschall fragte den Prinzgemahl erblassend, warum er die Nase verspündet habe.

«Zieh' ich den Kork heraus, so fliegt ihr allesamt in die Luft, so stark ist mein Gebläse, und stürzt wolkenhoch. Wo der Kriegsrat mein Verderben dengelte, steht euer Siegesdenkmal, und das ist ein Spinnendreck. Jetzt wählt, ihr Gauche und Hasenfüssel» Er tippte an die Nase, als ob er den Kork entfernen wollte.

Die Offiziere fielen vor ihm in den Staub und flehten um ihr Leben. Gnädig winkte er ihnen und winkte nochmals, sich zum Heere zu begeben und den Rückzug anzuordnen. Das geschah mit grösster Disziplin und Schlagfertigkeit. Eine halbe Stunde später übten auf dem Marsfeld nur noch die Heuschrecken.

Der König erkannte, dass ein tapferes Schneiderlein über Heer und Flotte triumphieren kann. Wenn die Armee versagt, ist kein Abstand mehr zwischen einem König und Meister Zwirn, zwischen Zepter und Ellenmass. Er lud seine Tochter zum Vieruhrkuchen mit Schlagsahne, ihrem Lieblingsgebäck, und tröstete: «Gewiss hätte deine Tugend und Schönheit den besten der Männer verdient. Bedenke jedoch, es hat ein jeder seine Fehler und Schwächen. Nadelgix hat das Land von den Bären und Räubern gesäubert, vergiss nicht die Lorbeeren, die er um unsere Heimat sich erworben hat!»

 

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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