Der Flötenspieler

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Hans war der kluge Sohn vermöglicher Eltern, jedoch ein Träumer und Tiernarr, den der Vater schalt, die Mutter hintenherum lobte. Die Arbeiten in Stall und Haus liefen ihm nicht von der Hand. Am liebsten hütete er die Schafe in den Felsen und spielte dazu die Flöte. Er hatte sich eine hübsche Sammlung von Birkenpfeifen angelegt und blies nicht nur Stücklein, die er fahrenden Musikanten ablauschte, Liedchen, die an den Spinnabenden gesungen und vorgetragen wurden, sondern auch eigene Fantasien, und was er am Bach, aus dem Rauschen des Waldes und dem Lerchentriller gehört hatte. Fuhr er mit den Schafen auf, so musizierten ihm die stürzenden Wasser, die Sänger der Büsche, die Gipfelwinde; auch die stumme Natur sprach zu ihm in mancherlei Tönen, und auf der Alp summte jede Hütte, jeder Block ihm eine Weise in die Ohren, die er auf seiner Flöte wiederzugeben suchte.

Die Musikanten sind überall gerngelittene Gäste, Musik erheitert und scheucht die Mucken und losen Gedanken. Die Kameraden vergassen Spiel und Zank, wenn er mit der Flöte erschien und ergötzten sich an seinen Melodien. Sobald er aber seine Lieblingspfeife herauszog, die Stirne faltete und geheimnisvoll von der Hütte, dem Wildwasser und den Bergdohlen dudelte, stupften sie sich mit den Füssen und raunten, er sei halt doch ein bisschen einfältig.

Um Martini reiste der Vater in die Stadt, wo er ein Haus besass, um den Mietzins zu holen. Er nahm den Sohn auf die Reise mit, und als wieder ein Jahr verstrichen war, sandte er Hans in die Stadt und blieb daheim.

Munter ging Hans seine Strasse, spielte zuweilen auf der Flöte, und nachdem er das Geld eingezogen hatte, spazierte er noch gemütlich in den Gassen herum und besah sich die fremde Welt. Im Trubel der Menge sehnte er sich nach den Bergen und seinen Freunden, und im Begriff umzukehren, stiess er auf eine Gruppe von Leuten, die mit Ruten und Knütteln auf einen nackten Leichnam droschen. Was diese widerwärtige Prügelei zu bedeuten habe, fragte er den ersten besten.

«Du bist wohl aus dem Rübenland, dass du unsere Bräuche nicht kennst! Wer stirbt und Schulden hinterlässt, wird öffentlich gestäupt, und die Lebenden nehmen sich ein Beispiel.»

Die grausame Sitte schnitt ihm ins Herz. Er erkundigte sich nach der Grösse der Schuld, und das war just der Betrag des Mietzinses. Ohne Besinnen klimperte er die Summe aus der Schweinsblase und ging davon. Kein Mensch hatte ihm Vergelt's Gott gesagt, im Gegenteil, man lachte und hänselte und nannte ihn einen Tölpel, der sein Geld einem Toten opfere.

Die Flöte kürzte ihm die Heimreise. Zu Hause erzählte er, wofür er sein Geld ausgeworfen, und der Vater machte ihm eine Szene und brauste auf, was das für eine Art sei, sein Geld an Leichen zu verschenken, die nichts damit anfangen könnten. Solch dumme Streiche möge er in Zukunft unterwegen lassen!

Als das Jahr um war, ging Hans, vom Vater scharf in die Lehre genommen und von der Mutter mit Zehrung wohlausgerüstet, in die Stadt, zog das Mietgeld ein und wanderte zum Tor hinaus. Bei einem Gemäuer, das zwischen Holunderbüschen und Tannengrün turmähnlich emporragte, rastete er und blies auf seinem Instrument. Mitten im schönsten Trio setzte er ab und horchte. Er drehte sich nach der Ruine und entdeckte eine vergitterte Scharte, aus der eine Frauenhand sich ihm bittend entgegenstreckte. Er trat näher und fragte: «Wer hat dich in dieses finstere Loch gesperrt?»

«Die Räuber haben mich aus dem väterlichen Hause entführt und in dieses Verliess geschleppt. Rette mich, o bitte, erlöse mich!»

Vergeblich rüttelte er an den rostigen Stäben. Er las ein Stück Holz auf, das er als Sturmbock gebrauchte, und machte die Öffnung frei. Nach langen Bemühungen konnte er die Gefangene herausziehen. Es war ein feines, abgezehrtes Mädchen, das sich schwankend an seine Schulter stützte und in die Herberge führen liess. Mit dem Wirt, der ein ehrlicher Mann war, ordnete er das Nötige; blätterte die Goldstücke aus dem Säckel und empfahl ihm gute Hut und Pflege. Als die Jungfrau des Morgens aus tiefem Schlafe erwachte, war er schon über Berg und Hügel.

«Wie ist die Reise abgelaufen, was hast du gesehen und erlebt?» bestürmte ihn die Mutter, «und wo ist der Mietzins?» kummerte der Vater.

Hans zerdrückte den schlaffen Beutel in seiner Hand, «nichts mehr da, weil ich - weil ich das Geld für ein Werk der Nächstenliebe ausgegeben habe.»

Erregt schritt der Vater die Diele auf und ab. «Wer steht dir näher als ich und die Mutter? Wie Spreuer streust du das Geld in den Wind. Pack dich, du ungeratener Sohn! Keine Gegenrede, Mutter, der Junge soll nun mal fremdes Brot essen und den Wert des Geldes kennen lernen!»

Da war er auf der Strasse und wusste nicht, welche Richtung er einschlagen sollte. Aufs Geratewohl lief er die Strecke, die er gekommen war, und liebäugelte unterwegs mit dem Mädchen, das sich in seine Gedanken drängte. Ein heisser Wunsch, sie wiederzusehen, beflügelte ihm den Schritt. Nun hatte er doch ein Ziel und eine Aufgabe vor sich, die ihn mit Stärke und Mut wappneten. Er grübelte die Flöte aus dem Sack und blies einen lustigen Marsch.

Wie rumpelte ihm das Herz, als er in kürzester Frist die Herberge erreichte! Die Jungfrau hatte sich ordentlich erholt, die Gliederschwäche und Blässe ihrer Wangen verloren, sie war wiederum zur ursprünglichen Jungmädchenschönheit aufgeblüht. Sie streichelte ihm die Hand, und nur sein zugeknöpftes Wesen hinderte sie, seinen Nacken zu umschlingen. Ihre feine vornehme Art verschlug ihm den Mut, und als sie ihm gestand, sie sei eine Königstochter aus dem Land der Palmen und Blumen, stopfte er in grösster Verlegenheit beide Hände in die Hosentaschen und wusste nicht, sollte er lachen oder trauern.

«Ich reise morgen heim», plauderte sie unbefangen weiter, «du bist mein Schirm und Schutz und begleitest mich.» Keck fasste sie ihn an der Hand und wirbelte mit dem heimlich Geliebten in den Garten hinaus.

Im Zweispänner führte der Wirt sie an die Küste, wo sie einen Schnellsegler bestiegen und während der Meeresfahrt sich ihre Liebe gestanden. Wenn abends die Sonne untertauchte und eine goldene Wasserstrasse malte, setzte er die Flöte an den Mund und spielte ihr die Weisen seiner Heimat. Nicht müde wurde sie, den Melodien von der Schafweide, dem Wildbach und den Älplerhütten zu lauschen, und ganz besonders einem hübschen Bergfinkenliedchen, das er mit neckischen Trillern verzierte.

Dem Kapitän des Schiffes gefiel die Königstochter auch. Als er in Erfahrung brachte, wer die beiden wären, sie eine Prinzessin, er ein Niemand und Unbekannt, lachte er ins Fäustchen und drehte den Faden zu einem finstern Plan. Mitten auf der See erhob sich ein heftiger Sturm. Die Wellen donnerten, das Tauwerk ächzte, die Planken knarrten und krümmten sich. Der Kapitän liess den Flötenspieler aus der Kabine rufen und forderte ihn auf, Hand anzulegen, es müsse alles versucht werden, den Segler zu retten. Hilfsbereit sprang Hans auf das Verdeck und hackte und splitterte mit der Breitaxt am Hauptmast. Mit einem entsetzlichen Krach knickte der Stamm an der Wurzel und fiel über Bord. Ein Schrei, und Hans stürzte ihm nach. Der Kapitän hatte ihn rücklings in die tobenden Wogen gestossen.

Als der Sturm nachliess, hissten die Matrosen die Segel, und ruhig glitt das Schiff seine Bahn. «Wo ist Hans, mein Hans?» rief die Prinzessin. «Weggespült, in den Wellen, tot, o ihr himmlischen Mächte! «Es ist leider so», sagte der Kapitän mit erheuchelter Trauer und suchte sich selber in ihre bittere Wehmut hineinzuschmeicheln, indem er ihr jeden Wunsch von den Lippen las, sie am Arm auf Deck geleitete und wieder in die Kabine hinunter.

Als sie seine Absichten merkte und seiner Begegnung auswich, wurde er zudringlich, und als das Schiff in den Hafen fuhr und auslud, blieb er an ihrer Seite und schilderte ihrem Vater, dem König, wie er sie aus der Gefangenschaft befreit und aus Sturmesnot gerettet habe. Vom Wiedersehen gerührt und von der Erzählung ergriffen, gelobte der König dem Kapitän die Prinzessin zur Braut. Sie aber, die ihren Vater nicht zu kränken wagte, äusserte den einzigen Wunsch, die Trauung um ein Jahr hinauszuschieben. Sie glaubte nicht an den Tod ihres Geliebten und nährte inbrünstig die Hoffnung, er werde vor Ablauf der Frist am Hofe erscheinen.

In der Tat war Hans noch am Leben. An den schaukelnden Mastbaum hatte er sich angeklammert und war ans sandige Ufer einer Insel geworfen worden. Er flocht eine regendichte Hütte und spähte nach Segel und Mast. Wenn die Sonne sich neigte und die goldene Wasserstrasse glitzerte, füllten sich seine Wimpern mit Tränen, und er versank in dumpfes Brüten.

Ein Jahr floss dahin, ihn deuchte, es sei eine Ewigkeit. Ungeduldig schritt er am Strand hin und wieder, schirmte mit der Hand die Augen und suchte den Horizont ab. Da schnellt ein Riesenfisch aus dem Wasser, schwadert und peitscht die Flut und fängt an zu reden: «Setze dich auf meinen Rücken, ich schwimme ins Land der Palmen und Blumen und trage dich zu dem Mädchen deiner Sehnsucht!»

«Gern, gern», jubelte Hans, schwang sich zwischen die Flossen, und schneller als der grösste Segler durchfurchte der Fisch die blaue Flut und brachte ihn an die Küste.

«Gut Glück zur Weiterfahrt!» sagte der Delphin. «Wisse, dass ich der tote Mann bin, der vor der Stadt gezüchtigt wurde, für den du dein Geld ausgegeben hast. Als Delphin musste ich mein Letztes abbüssen und bin nun erlöst.» Er plätscherte ins Wasser zurück und verschwand unter der Oberfläche.

Gegen Abend erreichte Hans die Residenz des Königs. Am nächsten Tag sollte die Hochzeit mit dem Kapitän stattfinden. Er schlich sich in den Garten, und als die Fackeln angezündet wurden, ergriff er die Flöte, die er auf dem Schiff zum letztenmal geblasen hatte und spielte die süssen Weisen seiner Heimat. Die Prinzessin war ans Fenster getreten und fragte ihre Zofe, wer im Park musiziere. «Ach, wenn er noch lebte, würde ich sagen, es sei mein Geliebter!»

«Spielt denn der Kapitän auch Flöte?»

«Ich sage mein Geliebter, und das ist nicht der Kapitän. Flink geh in den Garten hinunter, und fordere den Spielmann in meinem Namen auf, morgen an der Tafel zu erscheinen und wie eben jetzt zu spielen!»

Am Hochzeitsbankett - die Trauung sollte nachher stattfinden - sass die Prinzessin bleich und wortkarg an der Seite des Kapitäns, der Becher um Becher des feinsten Weines in die Gurgel schüttete, vor Hochmut sich blähte und die Lakaien hin und her jagte. Da keine Fröhlichkeit Platz greifen wollte, schlug der Zeremonienmeister vor, die verehrten Gäste möchten zur Unterhaltung ein Abenteuer erzählen.

Der Kapitän erhob sich, schwellte die Brust und sagte: «Dunkel ist der Anfang, heiter das Ende!» Mit gelassener Sicherheit flunkerte er von dem Räuberturm und seinem Schiff, wie er die Briganten in die Pfanne gehauen, die Prinzessin befreit und auf der See durch seine Tapferkeit nochmals dem Tod abgerungen habe. Da klang aus einer Ecke, die Lorbeer und Oleander umbuschten, ein schrilles Flötengebläse. Entrüstete Blicke zielten nach dem Winkel, die Prinzessin aber flüsterte ihrem Diener etwas ins Ohr, und der schritt auf die dunkle Ecke zu und ersuchte den Unbekannten, zu spielen. Sein Gesicht von den Zweigen beschattet, rief Hans durch den Saal: «Mit Verlaub, Herr Kapitän, eine Frage! Welchen Tod erleidet der Schiffer, der meineidig schwört?»

«Ein unverschämter Zaungast», gröhlte der Kapitän. «Heute aber bin ich in goldener Laune, und er mag Gnade und Gehör finden! Lebendig wird so ein Wicht gevierteilt.» Nach links und rechts auswehend, goss er den Inhalt seines Bechers auf das Brokatkleid seiner Braut.

Der Flötenspieler trat ans Licht und sagte: «Ich bin hier nicht Zaungast, Herr Kapitän, ich bin von der Prinzessin zur Tafel geladen. Nun sollt ihr auch mein Abenteuer vernehmen, das heiter anhebt und traurig endet.» Mit hellen Worten schilderte er den wirklichen Verlauf der Befreiung und die Überseefahrt und die mörderische Absicht des Kapitäns. Ein unheimliches Gemurmel lief von Mund zu Mund, der König schwankte hin und her auf seinem Sessel, mit verglasten Blicken starrte der Kapitän, die Prinzessin hatte sich erhoben. Als nun das Bergfinkenlied auf der Flöte trillerte, flog sie um den Tisch und schloss ihren Geliebten an die Brust.

Bevor der Kapitän entfliehen konnte, ward er gefesselt und ins Gefängnis abgeführt. Nach seinem eigenen Urteilsspruch sollte er lebendig gevierteilt werden. «Jagt ihn aus dem Lande, wir sind keine Barbaren!» sagte Hans. «Ich habe einen Toten losgekauft und lege nun auch für den Lebenden ein Wort ein.»

Das Fest nahm seinen Lauf und dauerte drei Wochen. Zum Schluss zog man mit wehenden Fahnen und unter den Klängen der Musik durch die Stadt. Hans liess es sich nicht nehmen, an der Spitze zu marschieren und immer und immer wieder die schönen Melodien seines Heimatlandes aufzuspielen.

Auf einmal huschten die Neuvermählten abseits in den Wagen zur frohen Hochzeitsreise.

 

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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