Die armen Seelen im Gletscher

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Es ging ein Bursche auf die Jagd, hoch und höher ins Gefelse empor. Der Tag neigte sich, und er hatte nicht einen Schuss abgefeuert. Missmutig machte er sich auf den Heimweg und schritt über den Gletscher, der so stark zerklüftet war, dass er alle Vorsicht walten liess und sich nicht beeilte. Noch immer brannte die Sonne und schmolz das Firneis, lustig glitten die Bächlein kreuz und quer durch die Rinnen und Furchen, bis eine offene Spalte sie verschluckte.

Mitten auf dem Gletscher hielt er an, schien ihm doch, er höre singen. Unsinn, wer wird um diese Zeit sich auf dem Gletscher tummeln! Nirgendwo ein menschliches Wesen, und doch klang es wie Gesang, immer näher, deutlicher. Er schwenkt um einen Eisturm, und sieh, er hat den Sänger vor sich, der bis an die Schultern vom Eis eingeschlossen, in einem Taumel von Lust und Seligkeit sein Lied schmettert. Welch ein merkwürdiger Anblick! Nicht weit daneben ragt ein anderer steil empor, der laut auf jammert, und doch sind ihm nur die Füsse bis an die Knöchel eingefroren. Zwei arme Seelen, die im Gletscher ihre Sünden abbüssen.

Der Jäger fasste Mut und rief: «Warum singst du, arme Seele, und warum jammerst du, Leidensgenosse? Kann ich etwas tun für euch?»

«Du kannst uns nicht helfen, barmherziger Jüngling, wir müssen die Zeit abwarten, bis Gott uns erlöst. Mein Kamerad bricht in Wehklagen aus, weil seine Marter erst beginnt, ich singe und jubiliere, weil die Befreiung aus dem Purgatorium mir winkt. Soeben keimte ein Arvenkorn, daraus wird ein Baum, aus diesem eine Wiege, und darein werden sie ein Kindlein betten, das, zum Priester geworden, für mich beten wird.»

Der Jäger zog den Hut, schlug das Kreuz und schritt eilig davon. Froh, dem schauerlichen Purgatorium entronnen zu sein, erklomm er die Seitenmoräne und schaute zurück. Wie es wimmelte von armen Seelen in den Spalten und im Geklüfte! Wie war er nur über den Gletscher gekommen, ohne den Büssern auf die Arme und Beine zu treten? Der Nebel dünstete und verschleierte ihm den Blick. Traurig folgte er der Wegspur, und bald lag der Firn weit hinter ihm.

Auf einmal blieb er stehen. Kommt da nicht eine Frau, schneeweiss, die goldnen Locken auf den Schultern? Das ist keine arme Seele, auch nicht eine Älplerin, nein, eine Dame aus der Stadt. Warum aber geht sie barfuss und ohne Hut? Die nackten Füsse bluten, am Rock, der mehr nur ein Hemd, klirren die Eiskerzen. Den weissen Hals umschlingt eine goldne Kette, an ihren klammen Fingern glitzern Diamanten. Des rauhen Weges nicht gewohnt, zuckt sie bei jedem Schritt zusammen.

«Guten Abend, Frau Gräfin, oder wer Ihr seid. Warum irrt Ihr in dieser Wildnis herum und noch allein dazu und ohne Schuhe?»

Ein Blick wie aus Bitten und Beten traf ihn und eine Stimme, die erschütterte: «Ich habe mich nicht verirrt und bin gewiss auf dem richtigen Pfade. Ich bin ein Edelfräulein und komme von Paris, - wo mein Leib noch warm auf der Bahre liegt. Im Sterbezimmer trauern meine Eltern und Verwandten. Als einzig Kind, von Pracht und Glanz geblendet, plätscherte ich in den Genüssen des irdischen Wohlbehagens, quälte durch meine Launen die Dienstboten, schwamm im Überfluss und verschloss der Armut mein Haus und meine Seele. O, könnte ich wieder gut machen, wär ich nur einmal barmherzig gewesen! Nun muss ich im Gletscher sühnen und meine Seele läutern.»

«Fräulein - Fräulein - wo seid Ihr?» Weg war sie, seine Rufe verhallten im Nebelgewoge.

Er konnte sie nicht vergessen. Eine heisse Sehnsucht kochte in seiner Brust. Der erste Sonnenstrahl trieb ihn hinauf zur schönen Büsserin. Am Rande des Firnes strich er stunden- und tagelang auf und nieder und rief: «Hoiho, schöne Frau - edle Pariserin - hoiho!»

Im Sommer schloss er Spind und Haus und verschwand spurlos.

Man will ihn noch auf dem Wege gesehen haben, der zum Gletscher führt - zum letztenmal.

 

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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