Entrückter Knabe

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Die Geschichte ist im Jahre 1837 in der Alp Stössi im Maderanertal begegnet, und ein zuverlässiger Mann, alt Posthalter Kyd in Brunnen, hat sie erzählt. Damals befand sich die Frau des Nachtwächters Dittli von Amsteg mit ihren zwei Kindern, dem vierjährigen Hansseppli und dem halbjährigen Melkli, ihrem alten Vater und zwei kleinen Kindern, oben in der Stössialp und sömmerte daselbst ein paar Geissen. Der Vater diente bei einem reichen Senntenbauer im Urnerboden als Zusenn.

Es war an einem Sonntag, am 20. August besagten Jahres. Die junge Mutter hatte die Kinder der Obsorge des Grossvaters empfohlen und war nach Bristen in die Kirche und von da nach Amsteg hinuntergegangen, um dort einige notwendige Bedürfnisse einzukaufen. Während der kleine Melkli in der Hütte in der Wiege schlief, sass der Grossvater vor derselben mit den andern spielenden Kindern auf dem Bänkli und rauchte behaglich sein Pfeifchen. Da liess der kleine Schreihals in der Hütte als Zeichen seiner regen Esslust seine kräftige Stimme ertönen. Da sagte der Greis zu den Kleinen, sie sollten bei der Hütte bleiben und ging hinein, dem Melkli mit einem währschaften Mehlbrei das Maul zu stopfen.

Schon war er mit der Fütterung beinahe zu Ende, als draussen die Kinder ein jämmerliches Geschrei erhoben. Voll Schrecken eilt der Grossvater hinaus, zu sehen, was es gegeben habe. Er fand nur noch zwei Grosskinder, und diese schrien erbärmlich: »Hansseppli niänä meh!«. Umsonst fragt sie der Grossvater, wo er hingekommen. Da sagten die Kinder, sie seien in die Beeren gegangen. »Hansseppli verschwundä, niänä meh!« Umsonst fragte der Greis in den benachbarten Hütten nach. Niemand wusste Bescheid. Endlich kommt die Mutter heim, ihr Jammer um das verlorene Kind ist herzzerreissend. Mit ihren mitleidigen Nachbarn durchsucht sie die Alp bis zu den Flühen hinauf und hinab bis zum wilden Kärschelenbach. Nirgends eine Spur. Ein Bote eilt hinüber auf den Urnerboden, dem Vater die Hiobspost zu verkünden.

Umsonst sucht die Mutter am Montag mit 16 Personen den Bach entlang das Tal hinaus. Ebenso am Dienstag und Mittwoch der herbeigeeilte jammernde Vater. Am Donnerstag ging er sodann hinunter nach Silenen, dem Pfarrer das rätselhafte Verschwinden des Knaben mitzuteilen.

Dieser nahm als gewiss an, derselbe sei in den schäumenden Bach gefallen und man habe eben die Leiche noch nicht gefunden. Er werde daher abends um 5 Uhr das Endzeichen läuten lassen. Eben läutete auch zu Bristen zur selben Stunde die Totenglocke, als aus den Flühen herab zwei Geissbuben atemlos dahergelaufen kamen und dem unglücklichen Elternpaare die seltsame Märe verkündeten, sie hätten kaum fünf Minuten oberhalb der Hütte den Hansseppli mit Tannzapfen spielend unter einer Wettertanne aufgefunden.

Die Mutter hob eben die siedende Milch vom Feuer und hätte sie im freudigen Schreck beinahe verschüttet. Sie stellte eiligst die Pfanne ab und rannte mit ihrem Mann atemlos den Berg hinan. Mit Entzücken schlossen die Eltern ihr verloren Kind heil und unversehrt in ihre Arme. Auf die dringenden Fragen an den Kleinen, wo er doch gewesen, hatte er stetsfort nur seltsamen Bescheid: Ein grosser Mann habe ihn auf den Arm genommen und an einen Ort hingetragen, wo viele Kinder gewesen seien und gekegelt hätten. Er habe ihm ein weisses Hemdlein angezogen, zu essen gegeben und freundlich mit ihm getan. Wohl habe er die Mutter jammern hören, aber der grosse Mann habe ihm verboten, ihr Bescheid zu geben.

Mehr war nicht aus dem Kinde herauszubringen. Dasselbe hatte die Schuhe und Kappe verloren, und der rechte Strumpf und das Hosenbein waren weggerissen und nirgends zu finden. Die Mutter hatte in ihrer Seelenangst eine heilige Messe zu den 14 Nothelfern in Silenen versprochen.

Nun gingen mit dem frühesten Morgen die glücklichen Eltern hinunter, das Gelübde zu erfüllen. Der Pfarrer, über die wunderbare Rettung erstaunt, redete ihnen zu, den Knaben, wenn er Talent habe, geistlich studieren zu lassen. Das geschah nachher auch wirklich. Nach beendigtem Studium und empfangener Priesterweihe hat Johann Josef Dittli im Herbst 1862 in der Pfarrkirche Silenen seine erste heilige Messe gelesen 1.

Die Geschichte war lange Zeit in aller Leute Mund und wird auch jetzt noch häufig erzählt. Ich hörte sie z.B. folgendermassen:

»Professor Dittli hat es mir selber erzählt. Als sie, Kinder, in der Stössialp vor ihrer Hütte spielten, sei plötzlich ein schwarzer Mann gekommen, habe ihn am Arm gepackt und sei mit ihm rasch in eine Plangg hinaufgelaufen. Die Eltern haben ihn drei Tage gesucht. Als man ihm am dritten Tage zu Silenen läutete, sahen ihn die Leute, die in der Plangg arbeiteten, bei einem Baumstrunk hervortreten. »E nu, d'r Hansseppli isch da!« sagten sie. Sie waren beim Suchen oft ganz nahe an ihm vorbeigegangen. Er hatte sich aber nicht rühren können. Der schwarze Mann habe ihm von Zeit zu Zeit zu essen gegeben, etwas wie Chräpfli, aber er hätte doch nicht sagen können, er habe gegessen. Daheim gab man ihm Milch, aber er sagte, er habe keinen Hunger.«

Andere erzählen, ein schwarzer Mann habe ihn entführt, und dann sei ein schöner weisser Mann gekommen und habe mit dem schwarzen gekämpft und ihn besiegt und habe darauf das Kind an einen schönen Ort geführt, wo es mit goldenen Kugeln spielen konnte.

Eine ähnliche Geschichte will eine Frau von Bristen in ihrer Verwandtschaft oder Nachbarschaft erlebt haben.

Fußnoten

1 Joh. Jos. Dittli, geb. 18. September 1834, wurde Priester 10. August 1862; 1863–1867 Seelmesser, 1867 bis zu seinem Tode Kaplan der Muttergottespfründe und Professor am Gymnasium in Altdorf. Mit 35 Jahren erfasste den starken und blühenden Mann plötzlich ein gewaltsamer Tod. Mit seinem Freunde, Rektor Rohrer, hatte er am Nachmittag des Fronleichnamsfestes (27. Mai 1869) einen Spaziergang an den neuen Reusskanal, der soeben im Bau war, unternommen und wollte auf schmalem Steg den reissenden Fluss überschreiten. Da kam Dittli auf den verhängnisvollen Gedanken, seine Tiefe zu messen. Er schleppte daher eine lange Haglatte herbei. Beim Bücken bekommt er das Übergewicht, stürzt in die wilden Wellen und ertrinkt.

Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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