Der kühne Melker

Land: Schweiz
Region: Entlebuch
Kategorie: Sage

Im grünen Entlibuch [Entlebuch], im Luzerner Bergland, wohnte einmal ein junger, frischer Melker. Der hörte, daß es auf einer Alp hinter Escholzmatt gar unheimlich zugehe, also daß dort kein Hirt mehr mit seinem Vieh die Alp besteigen und darauf sömmern wollte. So oft es einer gewagt hatte, auf die verrufene Alpenweide aufzufahren, hatte er's und sein Vieh mit dem Leben bezahlen müssen. Wohl sah man von weitem, daß dort im Sommer eine geheimnisvolle Alpwirtschaft betrieben wurde. Man hörte das Herdengeläute, man sah aus dem Hüttendach den blauen Rauch aufsteigen, aber nie kam jemandem ein Mensch oder eine Herde zu Gesicht. So mied denn alle Welt die gespenstige, todbringende Alp.

Nur der junge Melker, der in jener Gegend fremd war, fürchtete sich nicht. Er erklärte offen, daß er auf die verrufene Alp hinauf wolle, ob es nun in den Tod gehe oder nicht. Je mehr man ihm das tolle Wagnis abriet, desto hartnäckiger versteifte er sich darauf. Und als nun die Zeit der Alpauffahrt gekommen war, stieg er eines Tages mutterseelenallein auf die Escholzmatter Alp. Wie er die Grenze der totenstillen Weiden überschritten hatte, wurde es ihm doch etwas seltsam zumute. Kein Hauch wehte von den Flühen her, die ihm auf einmal alle menschliche Gesichter zu haben schienen. Kein Blümlein, ja kein Halm bewegte sich, und nur die überall rinnenden Wässerlein schienen eine geheimnisvolle Sprache zu reden.

Jetzt war er an der Sennhütte angelangt. Mit lauter Stimme, die gar wunderlich im Felsgewände widerhallte, rief er, ob denn niemand da sei. Es ließ sich nichts hören; alles blieb mäuschenstill. Jetzt ermannte er sich, obwohl ihm schauerlich zumute war, und klopfte an die Türe.

Da ging sie von selber auf. Er trat ohne weiteres in die Hütte. Mit zagen Augen schaute er um sich. Im Herd flackert ein Feuerlein, und der Käskessel hängt darüber. Doch er hört weder das Holz knistern noch sonst einen Laut. Es ist eine solche Stille in der Hütte, daß er meint, er könne sie mit den Händen greifen. Jetzt ruft er laut. Es bleibt still. Da tut er, als ob er den Gaumer (Hüter) hinter dem Kessel versteckt glaube. "He, du dort hinten, du erschreckst mich nicht, komm nur hervor!" ruft er. Aber es bleibt still wie zuvor, so still, daß ihm ist, er höre das Spinnlein weben, das am Turner über dem Sennkessel sein feines Netzchen wirkt. Da erblickt er eine Seitentüre. Er macht sie auf, und nun befindet er sich in einer sauber hergerichteten Alpstube. Der kuhbeinige Tisch ist mit Zinntellern, runden Blechlöffeln und Speisen bedeckt. An der Wand steht ein reinliches Bett mit Umhängen. Aber vergeblich ruft er nach den Leuten, für die der Tisch gedeckt ist. Nun wird es ihm aber doch zu dumm. Er meint, man wolle ihn zum Narren halten. "Ich will euch schon noch zu sehen bekommen", sagt er bei sich selbst und schlüpft geschwind ins Himmelbett, sorglich den Umhang zuziehend.

Wie er eine lange Weile so dalag, hörte er auf einmal schwere Schritte gegen die Hütte kommen, und jetzt ging die Hüttentüre auf. Er guckte durch ein Loch im Umhang. Da sah er eine fürchterliche Gestalt eintreten. Sie hatte einen ungeheuerlichen Kopf und eine grausige Fratze, die nichts Menschliches mehr zeigte. Jetzt zählte das Ungetüm die Teller und rief dann mit furchtbarer Stimme: "Das Totengericht ist fertig, es fehlt nur noch der Teller für jenen, der dort im Bette liegt!"

Jetzt erschrak der junge Melker von den Haarspitzen bis in die Zehennägel hinunter. Nun würde es mit ihm ja wohl Matthäi am letzten sein. Starren Gangs trampte das Gespenst auf ihn zu, packte seinen Arm, daß es ihm war, das Fegfeuer fahre ihm ins Gebein. Doch mit ganz anderer, schier sanfter Stimme redete jetzt das Ungetüm. "Fürchte dich nicht", sagte es, "ich will dir das Leben lassen. Ja, ich will dir unsäglich dankbar sein, wenn du mich erlösest. Aber freilich, es braucht Vieles und Schweres dazu. Ein Haar zu viel oder zu wenig kann dich unrettbar ins Verderben stürzen und mich in neue Pein." So sprach das Ungeheuer.

Jedoch der Melker hatte sich rasch getröstet, da er sah, daß sich auch mit Gespenstern reden lasse. Er versprach, alles zu wagen, um seine Erlösung zu vollbringen. "Steh auf!" gebot das Gespenst. Es führte ihn an den Tisch und befahl mit fürchterlichem Blick: "Iß!" - "Tu's du selber", sagte der Melker, "ich habe nicht eingebrockt und brocke nicht aus." Jetzt holte der Geist Schaufel, Licht und ein halbviertlig Maß herbei, legte alles dem Burschen zu Füßen und schnauzte ihn an: "Heb's auf und trag's in den Keller!" - "Ich hab's nicht heraufgetragen, so trag ich's auch nicht hinunter", antwortete der Melker. Da ergriff der Geist die Sachen selber und winkte dem andern, ihm nachzukommen, was dieser nicht ohne geheimes Bangen tat. Im Keller zeigte der Geist in einen Winkel und rief mit dröhnender Stimme: "Da, grab's heraus!" - "Nein", machte der Bursche, "ich hab's nicht verlochet, ich grab's da nicht heraus." Jetzt grub das Gespenst selber, bis ein Kessel zum Vorschein kam. "Heb ihn heraus!" brüllte das Ungetüm. "Tu's selber", sagte der Melker, "ich hab' ihn nicht hineingetan, ich heb' ihn nicht heraus."

Nun hob der Geist den schweren Kessel selber heraus. Dann teilte er das darin befindliche Geld in zwei Haufen und sprach: "Nun wähle dir einen Haufen! Triffst du den rechten, so ist dein zeitliches Glück und mir das ewige gesichert, sonst aber mußt du sterben, und ich muß weiter in der Qual fortleben." - Flink umarmte der Melker beide Haufen und rief: "Einer wird wohl der rechte sein!"

Da gab es einen Donnerschlag, das Ungetüm verwandelte sich in einen schönen Mann, der ihm dankbar zulächelte, und dann ward er zur weißen Taube, die durchs Hüttenloch entschwand. Der kühne Melker aber hatte einen großen Schatz gewonnen und die Alp von dem Ungetüm befreit.

Wie sperrten die Escholzmatter die Augen auf, als der junge Melker mit einer Milchtanse voll Geldstücken zu Tal schritt. Da ward er auf einmal so hochangesehen, daß er gleich des Gemeindepräsidenten schöne Tochter zur Frau erhielt.

 

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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