Arnold Winkelried

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

"Laßt hören aus alter Zeit
von kühner Ahnen Heldenstreit,
von Speerwucht und wildem Schwertkampf,
von Schlachtstaub und heißem Blutdampf.
Wir singen heut' ein heilig Lied,
es gilt dem Helden Winkelried."

So beginnt das Sempacherlied, das die Schweizer Jungen so gerne singen, das ist der Sempachermarsch, den die Eidgenossen blasen, wenn's zum Angriff in die Schlacht geht. Das Lied aber hat seine Entstehung der Schlacht bei Sempach zu verdanken, die erst so recht die Freiheit der Schweizer festigte.

Nämlich die Herzöge von Österreich, die früher in den eidgenössischen Landen eine so große Herrlichkeit ausübten, konnten es nicht verwinden, daß sie bei Morgarten von den drei Ländern Uri, Schwyz und Unterwalden besiegt worden waren und daß ihre Macht in den österreichischen Vorlanden von diesen Völkern und ihren nun auch mitverbündeten Eidgenossen von Luzern immer mehr geschmälert wurde. So beschloß denn der österreichische Herzog Leopold der Glorreiche, die vier Waldstätte um den grünen Bergsee zu züchtigen und sich die Stadt Luzern und die Alpenländer wieder zu unterwerfen.

Er zog, wie einst sein Ahnherr, mit einem gewaltigen, aufs beste ausgerüsteten Heere gegen die Bergländer aus. Es war im Jahre 1386 zur Erntezeit, als das stolze Kriegsheer vor ein Städtlein namens Sempach kam, das an einem stillen, kleinen See liegt, in dem sich die obstreichen Höhen spiegeln. Die Eidgenossen von Luzern, Uri und Unterwalden, mit Zuzügen von Zug und Glarus, lagen im Walde versteckt und sahen nicht ohne Bangen den jungen Herzog mit seinem glänzenden Heere von viertausend Reitern und Fußvolk bei Sempach stehen.

Die Österreicher trieben es gar übermütig, da sie des Sieges zum voraus gewiß waren. Sie mähten rund ums Städtlein das reife Korn ab, und ein Kriegsmann ritt vor die Ringmauer und rief hinauf: "Schickt doch den fleißigen Mähdern das Morgenbrot hinaus!" Da antwortete ihm des Städtchens Schultheiß: "Ich hoffe, meine Herren von Luzern und ihre Eidgenossen werden's euch bald genug also bringen, daß manchem von euch der Löffel aus den Händen fallen wird." Sie führten auch ganze Wagen voll Stricke mit sich, an denen sie die Eidgenossen aufhängen wollten.

Als nun Herzog Leopold die Eidgenossen im Walde merkte, befahl er, daß sich sein Heer in Schlachtordnung im freien Felde aufstellen solle, und kein Ritter dürfe auf dem Pferde bleiben.

Jetzt zeigten sich die Eidgenossen am Waldrand. Wie sie Ritter Hasenburg aus den Tannen auftauchen sah, klein an Zahl, aber in guter Ordnung, riet er seinem Herzog, er möchte doch seine Person nicht zu sehr dem Kampfe aussetzen, worauf ihm der Ritter Ochsenstein höhnisch zurief: "Hasenburg, o Hasenherz! Wir wollen die Eidgenossen, noch vor's zunachtet, dem Herzog gesotten und gebraten auf den Tisch liefern." Der junge Herzog aber sagte: "Das wolle Gott verhüten, daß ich euch allein kämpfen lasse. Ich will Gutes und Übles mit euch teilen, mit euch siegen oder sterben."

Es war ein gar schwüler Tag, und die Sonne brannte vom Himmel. Jetzt rannten die Schweizer in Keilform, wie bei ihnen gebräuchlich, mit gewaltigem Kriegsgeschrei von den Hügeln herab ins Feld. Wild schwangen sie ihre Hellebarden und Knüttel und meinten gleich im ersten Anlauf an den Feind zu kommen. Doch des Herzogs Heer hatte sich so aufgestellt, daß den heranstürmenden Schweizern ein gar stachliger Eisenhag von lauter langen Spießen, die bis aus dem vierten Glied sollen vorgeragt haben, entgegenstand. Also prallten die Eidgenossen an dieser fürchterlichen Hecke gar böslich auf mit ihrem lebendigen Keil und sahen mit Schrecken, daß sie dem Ritterheer, das mit Schild und Speer wie eine Mauer dastand, mit ihren Schlagwaffen nicht beizukommen vermochten. Schon der erste Anprall auf diesen Eisenigel hatte viele Eidgenossen niedergeworfen. Ratlos standen sie vor den Spießen, und obwohl sie darauf loshämmerten mit ihren Knütteln und viele zerbrachen, kamen sie doch nicht an die Ritter, denn immer wieder wurden die zerbrochenen Spieße aus den hinteren Reihen rasch ersetzt. Bangen ergriff die Schweizer. Noch nicht ein Feind war gefallen, und schon lagen viele Eidgenossen sterbend unter den Spießen, und auch das Panner von Luzern sank mit seinem greisen Schultheißen. Und unversehens kam Leben in den Speerwald der Ritter. Er begann sich, langsam vorrückend, zum Halbmond zu formen, um die Schweizer einzuschließen und dann in dem eisernen Wall zu erdrücken. Schreckensbleich, wie eine vom Donner aufgescheuchte Schafherde, taten sich die Eidgenossen noch enger zusammen. Sie wähnten sich verloren, fliehen aber wollten sie nicht.

Da rief auf einmal ein Mann aus Unterwalden namens Arnold Winkelried mit gewaltiger Stimme: "Eidgenossen, ich will euch eine Gasse machen. Sorgt für mein Weib und meine Kinder!"

Wie ein Wetterleuchten in der Nacht fuhr er an den Feind, griff mit beiden Armen in die dichtstehenden Spieße und riß sie mit Riesenkraft mit sich zu Boden.

Aber wie ein gestauter, plötzlich losbrechender Wildbach rasten jetzt die Eidgenossen über ihn hinweg, brachen in die im Speerwald entstandenen Lücke ein und ließen ihre Hellebarden, Knüttel und Morgensterne also herumwirbeln, daß den Rittern die Helme von den Köpfen und die Speere aus den Fäusten flogen. Ei, wie mußten jetzt die Herren an einen so blutigen Tanz, die sich bisan für die Musikanten gehalten hatten! Umsonst versuchten Ritter und Reisige sich zu stellen und mit ihren langen Spießen die Stürmenden niederzustechen. Diese Dornhecke vermochte den Wildstrom nicht mehr aufzuhalten. Eine blutige Straße tat sich in ihren dichten Reihen auf; die wütenden Eidgenossen bahnten sich mit wildem Jauchzen, zu dem die Panzer der Ritter einen gar schrillen Klang gaben, den Weg zur Freiheit weiter, immer weiter bis gegen die Mitte, wo der junge Herzog Leopold hielt. Es sank die Fahne von Tirol, es rang ein junger Hirt von Gersau dem Grafen von Hohenzollern das Panner seines Landes aus der Eisenfaust, es fielen die Ritter und Herren in ihren schweren Harnischen, die ihnen jetzt den Arm lähmten und sie erstickten. Und immer näher und näher klirrten und krachten die Hiebe der schrecklichen Wegmeister, immer näher rückte der bluttriefende Pfad dem Herzen des österreichischen Heeres, dem Herzen des Hauses Habsburg. Und jetzt stürzten sich die vordersten blutüberströmten Eidgenossen zähneknirschend auf das Hauptpanner von Österreich. Ein grausiges Ringen - es sank das stolze Panner. Aber Ritter Ulrich von Aarburg hob es wieder hoch und rief: "Retta Österreich, retta, retta!" Er hielt es, bis auch er zusammengehauen wurde.

Doch der junge Herzog Leopold von Österreich, der jetzt ohne Helm, mit blitzenden blauen Augen und wehendem Lockenhaar unter seinen Getreuen stand, erfaßte selber das sinkende Panner aus des Aarburgers Hand. Hoch schwang er's auf und rief seinen Rittern, die ihn fortreißen und retten wollten, zu: "Das verhüte Gott, daß ich fliehe! Es ist so mancher fromme Biedermann um meinetwillen in den Tod gegangen, daß ich von diesen nicht weichen will; lieber ehrlich sterben als unehrlich leben!" Umsonst warf sich Martin Malterer, der der Stadt Freiburg im Breisgau Feldzeichen trug, vor ihn, ihn zu schützen. Er wurde erschlagen und nach ihm auch der junge, heldenmütige Herzog.

Jetzt kam das Entsetzen in das Heer. Die Ritter riefen: "Die Hengste her, die Hengste her!" Aber die ungetreuen Knechte hatten sich auf den Pferden längst aus dem Staube gemacht. Wehe allen, die nicht zu fliehen vermochten! Sie wurden von den grimmigen Eidgenossen schonungslos zusammengehauen.

Bald war die Schlacht aus. Ein Heer von Adeligen, mit wohl dreihundertachtzig gekrönten Helmen darunter, bedeckte das Feld, auf dem am Morgen ihre Knechte noch voll Übermut das Getreide niedergemäht hatten. Auch eine große Anzahl der Hilfsvölker aus den Städten lag im Blute, darunter der getreue Schultheiß Klaus Thut von Zofingen, der das Panner seiner Stadt, um es zu retten, in den Mund gesteckt hatte.

Aber als die Eidgenossen jauchzend und frohlockend ihren Sieg feiern wollten, ertönte auf einmal weit durch Berg und Tal das Heerhorn von Uri, der Uristier. Und als die Krieger, ihn in Bedrängnis glaubend, seinem Rufe nachgingen, erblickten sie zu den Füßen des gehörnten Heerhornträgers den Helden Winkelried, wie er tot auf dem Gesichte lag, in seinen Armen die stachlige Garbe der blutüberströmten Spieße. Da sank wie der Schatten eines Berges tiefe Trauer über die Eidgenossen. Sie umringten den toten Helden, der ihnen die blutige Gasse zum Sieg geöffnet hatte, knieten nieder und beteten mit ausgestreckten Armen für seine Seele.

Drei Tage lang blieben sie auf der Walstätte. Die Unterwaldner aber zogen mit ihrem toten Helden still über den See der vier Waldstätte, ihn unter den leuchtenden Firnen seiner Heimat zu begraben.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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