Die listigen Wildleutchen

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Im Dorfe Tenna, im Graubündnerland, da wo die merkwürdigen Bluter wohnen, lebte vor Zeiten einmal der Geschworene Valentin Suter. Dieser fing in seinem Garten ein seltsames Tier, wie er noch nie eines gesehen hatte. Er brachte es schnell ins Haus und tat es in seiner Frau Haubenschachtel, damit es ja recht weich und warm gebettet sei. Dann trug er's zum Pfarrer nach Versam. Obwohl nun der Geistliche ein gewaltiger Gelehrter war und eine ganze Bibliothek in der Kammer und eine im Kopf hatte, war doch auch er hochverwundert über das sonderbare Geschöpf in der Haubenschachtel, denn er konnte sich nicht erinnern, jemals in seinen gelehrten Büchern von einem solchen wunderlichen Tier etwas gelesen zu haben. Deshalb bezweifelte er überhaupt, ob das Tier ein wirkliches sei, denn etwas, das nicht in seinen Büchern gedruckt stand, konnte doch unmöglich existieren. Er gab jedoch dem Geschworenen den Rat, er solle schleunigst den Gemeinderat zusammenkommen lassen, damit dieser in seinen Sitzungen erörtere, was es wohl für ein Wesen sein könne und was man damit anfangen wolle. Daß es etwas Unerhörtes, noch nie Dagewesenes sei, sah man ja an seinem feinen, samtartigen Fell, an den breiten Füßen, die aussahen wie Hände, an der spitzen Schnauze und an den kleinen, listig zugekniffenen Augen. Gewiß sei dies Tier gefährlicher als ein Basilisk. Wenn das einmal wüst zu tun anfange, geschehe etwas Gräßliches.

Jetzt überkam den Geschworenen eine große Angst. Er lief mit dem Tier in der Haubenschachtel behend nach Tenna zurück und ließ den löblichen Gemeinderat zu einer Sitzung einberufen. Rasch versammelte sich der Gemeinderat, und als nun die Ratsherren das merkwürdige Geschöpf sahen, entsetzten sie sich, und dann berieten, beredeten und erwogen sie die heikle und schwierige Angelegenheit. Aber obwohl sie ihre ganze Weisheit auskramten, kamen sie doch so wenig zu einem Ende als eine Strumpfkugel. Ratlos sahen sie einander an, wurden jedoch dadurch nicht gescheiter. Da beschlossen sie endlich, das Volk der ganzen Gemeinde zusammenzurufen. Der Gemeindeweibel mußte alle stimmfähigen Gemeindegenossen von Tenna, Versam und den Höfen auf den kommenden Vormittag ins Rathaus zu Tenna zusammentrommeln. Als nun alles Volk der Gemeinde beisammen war, wurde ihm der höchst eigentümliche Fall vorgetragen und das seltsame Wesen gezeigt, worüber sich alles entsetzte. Sie rieten hin und her, was das nun wohl für eine neue Landplage bedeuten könnte. Keiner der Gemeindegenossen erinnerte sich, jemals ein derartiges Tier gesehen zu haben. Ja selbst ein uralter Mann, der noch Bärenfleisch gegessen hatte und sich fast bis an die Arche Noah zurückzuerinnern vermochte, versagte.

Endlich, nach langem, fruchtlosem Hin- und Herraten, entschloß sich die versammelte Gemeinde auf den Antrag des Gemeinderatsmitgliedes, das den dicksten Kopf hatte, das unheimliche Tier umzubringen. Als man nun glücklich so weit war, erhob sich die Frage, wie man das schwarzsamtene Untier mit dem spitzen Rüssel hinrichten wolle. Verschiedene Anträge wurden gestellt, einer auf Kopfabschlagen, einer auf Ersäufen, aber keiner schien der Versammlung annehmbar, denn das rätselvolle Ungeheuer schien ihnen eine noch viel schmerzvollere Todesart verdient zu haben. Da ging die Türe auf, und ein Wildmännlein, das in den Bergen das Vieh hütete, trat in die Gemeindeversammlung ein. Da die Gemeinde sich über die Todesart des gefangenen Tieres nicht schlüssig zu werden vermochte, fragte man nun auch das Wildmännlein um seinen Rat. Das Wildmännlein ließ sich das Geschöpf in der Haubenschachtel zeigen, und gleich erkannte es, daß das gefürchtete Tier nur ein armseliger Maulwurf sei. Es lächelte schalkhaft und riet der versammelten Gemeinde, man solle das wunderliche Tier lebendig begraben.

Lange, wie erlöst, atmeten die Gemeindegenossen auf. Ja, das war ein Spruch und Urteil nach ihrem Herzen, und dazu kostete er nicht viel. Sofort grub man vor dem Hause des Geschworenen ein Loch. Alsdann brachte man das Tier lebend hinein und deckte es rasch wieder zu. Das Wildmännlein aber lachte auf den Backenzähnen und ging fürbaß. Der Maulwurf aber freute sich des guten Ausgangs seines Abenteuers und grub sich unter der Erde, wo es ihm so wohl war wie dem Vogel in der Luft, eine Wohnung mit vielen, vielen Gängen. -

Im Graubündnerland lebten damals viele Wildleutchen. Doch selten zeigte sich eins, sie hatten gar nichts mehr mit den Menschen zu tun, seit sie von ihnen für ihre guten Dienste nur Undankbarkeit geerntet hatten. Scheu wie die Gemsen machten sie sich über Berg und Tal davon, wenn sie etwas Menschliches um den Weg merkten.

Aber einmal gelang es den Burschen von Conters doch, sich eines Wildmännleins durch List zu bemächtigen. Vor dem Dorfe standen nämlich zwei Brunnentröge. Nun wußten sie, daß ein Wildmännlein oft zu Tal kam, um aus dem Brunnen zu trinken, da in den Felsen des Hochgebirges bei dem heißen Sommer das Wasser auszutrocknen begann. Sie ließen also die Brunnentröge auslaufen und füllten den einen Trog mit lauterem Branntwein, den andern mit Rotwein. Danach legten sie sich ins Haselgebüsch auf die Lauer. Gegen Abend kam das wilde Männchen scheu dahergegangen. Als es aber niemand um den Weg sah, machte es sich flink zu den zwei Brunnentrögen. Doch kaum hatte es die Tröge angeschaut, so vermutete es eine List. Es beschaute mit bedenklichen Augen den Trog mit dem blutroten Wein und dann den andern mit der weißen Flüssigkeit. Dann lachte es auf und sagte zum Trog, in dem Rotwein war: "Röteli, du verführst mich nicht!" Danach bückte es sich über den Trog, in dem der Branntwein schwappelte und den es für spiegellauteres Wasser hielt, und trank in gierigen Zügen.

So gelang es den Burschen, das betrunkene Wildmännlein zu überlisten und zu fangen. Man band es. Und als es wieder nüchtern war und flehentlich anhielt, man möchte es wieder freilassen, versprach man ihm die Freiheit, wenn es den Burschen einen Rat gebe, der ihnen durchs ganze Leben wohlbekäme. Das Wildmännlein versprach's feierlich. Sie banden es los, und da gab es den aufmerksam Aufhorchenden folgenden Rat:

"Ist's Wetter gut, so nimm die Jacke mit!
Ist's aber schlecht, so kannst du tun, wie d'witt!"

Kaum hatte es das Sprüchlein gesagt, so sprang es über ihre Köpfe und Kappen hinweg und wie eine Gemse über Stock und Stein und ward nie mehr gesehen.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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