Der pfiffige Hirte

Land: Schweiz
Kategorie: Novelle

Es war einmal ein Herr, der weder Lügner noch Schmeichler ertragen konnte. Er hielt sie für so armselige Leute, 
daß er nie jemanden einen Lügner genannt hätte, ohne zu denken, er würde ihn beleidigen. Ja, er ging sogar so weit, eines Tages zu sagen: «Wenn ich jemals einen Menschen als Lügner beschimpfen sollte, verspreche ich auf meine Ehre, ihm meine Tochter zur Frau zu geben.» 
Nun stand in seinen Diensten ein junger Hirt, der nicht auf den Kopf gefallen war. Der beschloß eines Tages, er möchte wohl der Schwiegersohn seines Herrn werden. Dieser war keineswegs hochmütig; er kam oft zu seinen Knechten ans Feuer und hörte gerne die Geschichten, die sie zur Abendstunde erzählten. Wenn ein besonders guter Scherz berichtet wurde, hielt er sich den Bauch vor Lachen. Eines schönen Abends sprach er den jungen Hirten an: 
«He, mein Junge, weißt du nichts zu erzählen?» 
«Sicher, mein Herr. Eines Tages, als ich die Herde hütete, setzte sich ein Bienenschwarm, nicht weit von mir entfernt, auf einen Geißblattstrauch. Ich habe den Schwarm in einen Sack fallen lassen und diesen gut zugebunden; die Bienenkönigin habe ich mit einem Spinnwebfaden am Sack angebunden. Als die Königin fortfliegen wollte, haben alle Bienen ihre Flügel geöffnet. Schnell habe ich mich am Ende des Sackes festgehalten und wurde mit ihm bis zu den Wolken emporgehoben. Die Menschen sahen von dort oben so klein aus wie Ameisen, und die Felder waren wie ein Flickenteppich. Als die Bienen ermüdeten, ist der Sack wieder ganz sanft herabgeschwebt und nahe beim Geißblattstrauch gelandet. - Habe ich Ihnen eine Lüge erzählt, mein Herr?» 
«Es war schon ein bißchen starker Tabak; aber wer weiß, ob du am Ende nicht doch die Wahrheit gesagt hast? Weißt du vielleicht noch eine andere Geschichte?» 
«Sicher», antwortete der Junge, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen. 
«Als ich noch jünger war, habe ich als Mahlknecht in einer Mühle gearbeitet. Eines Abends wurde das Maultier krank. Wie sollte man jetzt die Säcke voller Korn hoch oben vom Hang herabholen? Der Müller raufte sich die Haare; er war ganz verzweifelt. 
Glücklicherweise hatte ich einen guten Einfall: die Nebel stiegen vom Fluß herauf - an diese hängte ich einen Schubkarren, der morgens den Abhang hinaufgezogen wurde und abends voll beladen wieder zurückrollte, wenn der Nebel sich ins Tal senkte. Habe ich jetzt gelogen, mein Herr?» 
«Wirklich, du gibst schon ein wenig an. Weißt du noch eine Geschichte?» 
«Ich glaube schon. Am nächsten Tage nieselte es, doch die Sonne blitzte durch die Wolken wie ein Feuerwerk. Das gab einen wunderschönen Regenbogen, der mit einem Ende im Bach direkt neben der Mühle stand, während das andere Ende sich ganz oben am Abhang verlor. Das Maultier war immer noch krank; also rannte ich den Abhang hinauf, ohne auch nur richtig Atem zu holen. Oben angekommen, nahm ich einen Sack Korn nach dem anderen und ließ sie über den 
vielfarbigen Bogen hinuntergleiten; dann bin ich den Hang hinuntergerast, um die Säcke bei der Mühle in Empfang zu nehmen. Etwas lief dabei nicht ganz nach Wunsch: das Mehl, das an diesem Tage aus den Mahlsieben ge- wonnen wurde, leuchtete in allen Farben des Regenbogens. Mein Herr, denken Sie jetzt, ich sei ein Lügner?» 
«Du machst uns hübsch mundtot, Bursche. Wo nimmst du all das her, was du uns da erzählst? Nun, weiterb 
«Meiner Treu, mein Herr, als mein Meister das farbige Mehl sah, wurde er so wütend, daß er mich mit einem fürchterlichen Fußtritt hinausschmiß - mit einem so gewaltigen Fußtritt, daß ich bis in den Hof eines Bauerngutes flog, wo man eben einen Maulwurffänger suchte. Ich sagte sofort, ich wäre der beste Maulwurffänger der ganzen Gegend, und die Leute haben mich sogleich eingestellt. Einmal hatte ich Lust, den ganzen Tag hindurch einer Feldmaus nachzugehen. Wir marschierten hintereinander: sie vorn, ich hinten, wie zwei Pilger. Die Maus kletterte auf 
den Wipfel einer Fichte und auf der anderen Seite wieder hinunter ich hinterher. Sie .schwamm durch einen fluß, ich mit ihr Dann hat sie ein Gerstenfeld durchquert. Ich bin auf ihrer Spur geblieben. doch da hat der Feldhüter mich erwischt und hat mich in Ihrem Gefängnis eingesperrt. Die verfluchte Feldmaus hatte mich derart in Trab gehalten, daß ich vor Müdigkeit augenblicklich eingeschlafen bin.» 
«Schweig, du Schwätzer" sagt da der Herr. 
«Habe ich Ihnen eine Lüge erzählt?» «Das habe ich nie behauptet» 
«Nun schön, es ist so wie ich sagte: ich schlief also ein, und als ich erwachte, befand ich mich inmitten eines Ameisenhaufens. 
Neben mir lag ein Brief, den Ihr Herr Großvater an Ihren Herrn Onkel geschrieben hatte. Und wissen Sie, was in diesem Brief zu lesen war?» 
«Sag es mir schnell!» 
«Ich weiß wirklich nicht, ob ich's Ihnen sagen soll; Sie könnten darüber sehr böse werden» 
«Sag's nur schon!» 
«Ihr Herr Großvater schrieb Ihrem Herrn Onkel, daß er nie im Leben so glücklich gewesen sei, als zu der Zeit, da er in Bonfol Schweine gehütet habe.» 
«Lügner! Verdammter Lügnerl» brüllte der Herr und packte den Jungen an der Gurgel. 
«Wann soll die Hochzeit denn stattfinden?» fragte nun der Hirt. 
«Was erzählst du mir da, du Habenichts!» schrie der Herr. 
«Haben Sie nicht etwa geschworen - und das nicht beim Schwanz einer Stute, sondern bei Ihrer Ehre -, daß Sie Ihre Tochter dem zur Frau geben würden, den Sie als Lügner bezeichneten?» 
«Der Teufel soll mich holen, wenn ich das widerrufen würde», erwiderte der Herr, der seine Besinnung wieder gefunden hatte. «Aber mein Großvater war nie Schweinehirt.» 
«Sicher nicht, aber waren das nicht etwa Lügen?» 
«Stimmt», sagte nun der Herr als guter Verlierer. 
«Heute in zwei Wochen bist du mein Schwiegersohn» 
Und so geschah es, daß der kleine Hirt, nachdem er Mahlknecht und Maulwurffänger gewesen war, ein Herr wurde. 

Nach: J. Surdez, Contes fantastiques du Jura recueillis par Jules Surdez (1878-1964) in:  E. Montelle, R. Waldmann, Die schönsten Märchen der Schweiz, Vevey 1987

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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