Der Küfer von Luzern in der Drachenhöhle

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

In der Stadt Luzern lebte einst ein Küfer, der oftmals in den dichten Wäldern und Klüften des Pilatusberges herumirrte, um sich Holz zur Verfertigung der Weinfässer zu suchen. Eines Tages kam er aber von seinem gewöhnlichen Wege in den letztern so weit ab, dass er nicht mehr wusste, von wo er in dieses Labyrinth von Schluchten hineingeraten und wie er sich aus demselben wieder herausfinden sollte. Nachdem er so den ganzen Tag und einen Teil der Nacht mit Wiederaufsuchen des verlorenen Pfades zugebracht, er auch ein wenig ansgeruhet hatte, wollte er mit Anbruch des Tages seinen Weg wieder aufnehmen. Das ungewisse Zwielicht aber, das, da der Tag noch nicht gänzlich angebrochen, in der Schlucht herrschte, liess ihn eine in dem Weg liegende tiefe Grube nicht bemerken. Er stürzte in dieselbe hinab, nahm jedoch, da er auf weichen Lett fiel, der den Boden des Abgrundes bedeckte, von dem Falle keinen Nachteil noch sonstigen leiblichen Schaden, ausser solchem, der aus der Furcht vor dem möglichen Untergange zu entstehen pflegt. Als er aber die Höhe des Schlundes gemessen und zu der Ueberzeugung gekommen war, dass er an menschlicher Hülfe verzweifeln müsse, wandte er sich mit brünstigem Gebet zu der Mutter Gottes, dass dieselbe ihn aus seinen Nöten befreien möge.

In den Seitenwänden der Grube waren aber noch tiefe Gänge und Höhlen. In diese schritt jetzt der Küfer hinein, um sich einen Ort zu suchen, der ihm zum Aufenthalt dienen könnte. Kaum aber hatte er einige Schritte nach vorwärts getan, da kamen ihm zwei schreckliche Drachen entgegen, bei deren Anblick er bis auf den Tod erschrak und die heilige Mutter Gottes wiederum um Hülfe anflehte. Und siehe! o Wunder! die Drachen taten ihm nicht nur keinen Schaden oder sonstige Gewalt an, sondern streichelten sogar seinen erschrockenen Körper mit Kopf und Schweif, so dass er neuen Mut fasste und sich an diese schreckliche und unerhörte Gesellschaft zu gewöhnen anfing. In dieser Gesellschaft brachte aber der Unglückliche nicht einen oder sieben Tage zu, sondern sechs volle Monate, von dem 6. Tag des Wintermonats an bis zu dem 10. des Aprils. Während dieser langen Zeit stillte er seines Lebens Notdurst auf folgende wunderbare Weise: Er hatte nämlich bemerkt, dass die Drachen während der ganzen Winterzeit keine andere Nahrung zu sich nahmen, als einen salzigen Saft, der aus den Ritzen der Felsenwände hervorträufelte und welchen diese Tiere aufleckten. Da ihm nun alle andere Nahrung abging, folgte er ihrem Beispiele und fing gleich ihnen an, diesen Saft von den Wänden abzulecken.

Als jedoch die Sonne die Aequintoktiallinie überschritten hatte und die Wärme dieses Gestirns fühlbarer zu werden begann, da mochte sich auch in den Ungeheuern der Gedanke regen, dass die Zeit da sei, ihre unterirdische Wohnung zu verlassen und sich eine bessere Kost zu suchen. Und so flog denn zuerst der eine der Drachen, nachdem er zuvor seine Flügel wie zum Versuch ein paarmal geschwungen, aus der Höhle von dannen. Als aber der noch zurückgebliebene sich ebenfalls zum Davonfliegen bereit machte, da meinte der arme Küfer, dies möchte die beste Gelegenheit zu seiner Befreiung sein, und hängte sich mit seinen Händen fest an den Schweif des Untiers, das ihn also auch mit davon nahm und ihn unter göttlicher Leitung alsbald zur Erde in der Richtung nach Luzern zu niedersetzte, worauf er, nachdem ihn der Drache verlassen, nach Haus zu den Seinigen geeilt ist, die ihn längst für verloren gehalten und denen er nun diese seine so wunderbare Geschichte erzählte.

Damit aber seine Befreiung, welche ihm nur durch die Vermittlung der heiligen Mutter Maria zu Teil geworden war, im ewigen Gedächtnisse zur Verwunderung der Nachkommen bleibe, ließ er ein Messgewand anfertigen, auf dem der ganze Verlauf dieser Geschichte gesticket und das noch heutigen Tages in der Kirche des heiligen Leodegarius zu sehen ist. Der also Gerettete aber entschlief in Gott zwei Monate nach seiner Befreiung aus der Drachenhöhle, da er menschliche Nahrung nicht mehr vertragen konnte.

C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen, Leipzig 1854.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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