Der weisse Leichenzug

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Der Jääggel Bääben Peetsch im hintern Grund war grad kurz vor Mitti der Heilignacht geboren worden.

Solche Leute sehen mehr als alle andern. Auf ihrem Wege durch das Leben gehen des öftern Geister, die gewöhnliche Leute niemals wahrnehmen, in greifbarer Nähe an ihnen vorbei, die guten wie die bösen.

Der Peetsch war Säumer und Rossknecht und hatte als solcher häufig zu nächtlicher Stund noch den Weg unter den Füssen. Er war ein baumlanger Mann, es hatte ihm schon manchmal angeregnet, mancher Wind ihn angeblasen, und viele, die schon seit Jahren neben dem Kilchli ruhen, waren ihm nachts über den Weg gelaufen. Aber gefürchtet hatte er sich noch nie, mehr als einen Tod ist ja keiner schuldig.

Einmal hätte es ihm doch leicht schlimm ergehen können. Es war zur Winterszeit, und er musste mit seinem Meister noch spät abends hinaus nach Interlaken fahren. Während des Rückweges wollte dieser die Zügel führen. Auf dem guten Schneeschleif am Steinschlagstutz, und dem warmen Stall zu ging das Rössli wie ein Gemschi. Die Schellen klangen hell durch den tief verschneiten Winterwald, über den der Mond zwischen Himmelsschäfchen dann und wann einen Guss fahlen Glanzes warf. Die Lütschine neben der Strasse, die hier sommerüber in gischtendem Lauf das enge Tal mit Tosen füllt, lag starr unter Schnee und Eis; nur ein paar lautlose, karge Wässerlein rannen langsam und müde dahin wie die öden Jännertage.

Oben von der Isenfluh polterten plötzlich mächtige Eiszapfen schreckhaft in die schlafende Welt. Darob erwachten einzelne Bergtannen und liessen die schwere Schneelast in silbernem Sprühregen von den dicken Bogenästen fallen. Lange noch wippten diese wie winkende Arme auf und nieder. Jetzt war der Bääben Peetsch dessen sicher und gewiss — ihnen stand etwas bevor. Auf der Sausbachbrücke im Sandweidli, da fühlte der Bääbeler, dass sie ausstellen mussten und sagte zu seinem Meister: "Fahret rechts!" Der aber sah nichts und fuhr seelenruhig mitten auf dem Weg weiter. Der Peetsch wusste, dass das, was er sah und fühlte, nicht jedem gegeben ist und mahnte noch einmal eindringlich: "Du lieber Himmel, stellet aus! — Stellet aus!"

Da hörten sie ein Sausen, als ob die Berge sich auftun wollten; der Heiterluft fiel eisig durch den Sausbachgraben herunter, und sie froren, dass sie schlotterten. Auf einmal schleuderte es Pferd und Schlitten mit Wucht an die Mauer, die rechts den Weg säumt. Sie glaubten, alles, Mensch und Tier und Gefährt gehe zu Hudel und zu Fetzen. Mit Ross und Mann und Schlitten an die Mauer gedrückt, sah der Säumerknecht mit Entsetzen ein langes Leichengeleit an ihnen Vorbeigehen, weiss wie frischgefallener Schnee die Träger, weiss der Sarg und in blütenreine Tücher eingehüllt der lange, stumme Zug der Leichengänger. Mehr als eine Vaterunserlänge war der grosse Rossknecht zwischen Hangen und Bangen. Der Meister erschauerte im kalten Heiterluft und nahm nur den Aufschlag an der Mauer wahr. Wie staunte er, als auf seine Frage der Knecht ihm die schauerliche Erscheinung schilderte! Die Gänsehaut rieselte ihm über Rücken und Glieder. Die rechte Schlittenkufe und die Lande waren gebrochen aber Meister und Knecht und das gute Rössli wurden – dem Himmel  sei Dank – weder krank noch bresthaft.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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