Der dreibeinige, weisse Hase

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Weiss Gott vor wie viel Jahren standen die Speicher der Sefinenalp bei der Wasserbrücke vorn im ebenen Boden. Jeden Tag trug der Senn die frischen, noch in Järb (hölzerne Käseform) und Umschlag eingespannten Käse auf dem Räf hinaus in die Speicher. Ein armer, hungriger, übelgesunder Waisenbub von Gimmelwald, der bei einem knorzigen Bauern vertischgeldet war, wartete Tag um Tag vor den Speichern und bat um Käsriemen. Gewiss hätte eher der Tag gefehlt als der Bub, und lange tat er keine Fehlbitte. Schliesslich aber wurde der beharrliche Käsriemenbettler dem Sennen überlästig, und er beschloss, wie man es etwa macht, den Buben durch einen gähen Schreck vom Speicher fern zu halten.

Eines Tages, als er schon wieder auf der Speicherschori (vorstehende Bodenplanken) sass und auf ihn wartete, stellte er das Räf ab, mit einem harten Knacks, machte ein finstres Gesicht, fluchte: "So, beim Kreuzertonner abeinander — wenn du jetzt noch ein einziges Mal kommst, so hänge ich dich auf!"

Der einfältige Bub erschrak nicht im geringsten und fragte harmlos: "Wie geht denn das?" Der Senne drauf: "Jaa, du Gwunderfuchs, das kann ich dir grad zeigen!" Er öffnete den Speicher, rollte einen Scheittotz aus der Ecke und stellte den Buben darauf. Dann nahm er das Bindseil vom Räf, band es an den Unterzug, warf dem Buben eine Schlinge um den Hals und zog sie so an, dass er mit den Schuhnasen nur noch schwachen Stand hatte.

Da — was war das? — In diesem Augenblick hoppelte — wie seltsam — zu Mittsommer — ein schneekreideweisser, dreibeiniger Hase langsam und unbeholfen an der offenen Tür vorbei. Der Senne vergass den Knaben, rannte wie das Bisenwetter hinaus, dem lahmen Schneehasen nach, fort und fort über Stock und Stein, durch Strauch und Stauden den ganzen geschlagenen Tag.

Als er zu nachtschlafender Stunde wieder zurück zum Speicher kam, da war die Türe noch sperrangelweit offen. Er machte Licht. Herr Jesses — der Totz war umgefallen, und ein verzerrtes Kindergesicht mit gebrochenen Augen starrte ihn an. — Ein Schrei gellte durch ganz Sefinen.

Der Älpler verscharrte das Lychli des erhängten Kindes im Kies des Lütschinenbettes, dann in die Nacht hinein, wieder dem dreibeinigen, weissen Hasen nach, so weit, so weit, dass er nie wieder kam.

Bald wollte keiner von den Älplern mehr eine einzige Tregi (Bürde) hinaus zu den Sefinenspeichern bei der Brücke im Boden tragen; denn so gewiss Wasser von den Bergen rinnt, sahen sie Mal für Mal ein Seil vom Balken hangen und auf dem umgestürzten Scheittotz den Sennen sitzen, das Gesicht in die Hände vergraben. Die Speicher zerfielen und wurden viel weiter hinten im Tal wieder gebaut, da, wo sie heute noch stehen.

Und der Sefinensenn hatte dem Buben nichts Übles antun wollen, war bei Lebzeiten kein arger Mann gewesen — helf ihm Gott an die Ruh!

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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