Die Pest in Saus

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

In Saus, dem lieblichsten Seitental von Lauterbrunnen, kauern nur etliche Gruppen von Alphütten.

Noch heute aber heisst ein Bächlein im Flöschwald draussen, in der Matte, das Mühlibächli, denn früher war da oben im saftigen Talgrund ein Dorf; es sollen an die zwei Dutzend Häuser gewesen sein und eine Kapelle. Um die Häuser waren grüne Wiesen und lachende Gärten. Schneefall gab es dazumal in Saus keinen, nicht einmal zur Zeit der Jahreswende.

Weder auf Bach noch Seelein lag jemals Eis, der Winter war so mild wie heutzutage der Frühling.

Waren die baldigen Weidlein drunten in lsenfluh geazt, so zog man hinauf nach Saus, denn hier wuchs so viel Futter, dass die Kühe täglich dreimal gemolken werden mussten. Das war für die Isenflüher immer eine lustige Bergfahrt Die Sauser kamen ihnen ein Wegstück entgegen, und wenn sie alle oben in den saftgrünen Sausmatten waren, dann feierten sie eine Älplerchilbi, bei der Frohmut und Glück Gastgeber waren.

Eine lange Reihe von guten Jahren zog mit raschen Flügelschlägen dahin, und es schien, dass Friede und Wohlstand für alle Zeiten im einsamen Hochtale zu Hause seien.

Eines Morgens aber starrte alles in Frost und Kälte. Ein Mägdlein trieb die Ziegen gegen das Flöschwaldseeli zur Tränke. Die Jungfer erschauerte, denn sie fror, aber da sie noch nie gefroren, wusste sie nicht, was ihr fehlte. Es war bissig kalt, ihre Schuhe waren bald so hart wie Horn, und am Seeli konnten die Geissen kein Wasser schlürfen; sie reckten die Hälse, meckerten und beschnupperten verwundert die glatte Fläche von Eis. Das Meitschi lief heim und erzählte, im Flöschwald oben sei der Teufel am Werk und Glas auf dem Wasser. Der Schreck lief durch das Dorf, alles kam und bestaunte das seltsame Ereignis. Sobald liess man einen kommen, der mehr konnte als nur Brot essen, und dieser sagte den Sausern, der Satan habe sie und ihr Glück im Hochtal entdeckt und sei Sinns, Ungemach über sie zu bringen.

Kaum war darauf eine Woche verwichen, fiel grossflockiger Schnee, häufte sich bis an die Dachrafen, und oben in Saus erlebte man die erste Winterhärte. Lange Monate hindurch konnte man nach Isenfluh hinunter weder Weg noch Steg brauchen.

Sobald die warmen Tage kamen, stiegen die Isenflüher hinauf nach Saus. Tal wie Hang waren gangbar, aber keine Menschenseele begegnete ihnen, und kein Räuchlein stieg vom Dorf gen Himmel.

In den Wegkehren auf dem letzten, stotzigen Rain vor dem Talboden, da liessen sie den Isenfluhjodel in den Flühen widerhallen. Niemand gab Bescheid als der Sausbach unten in der Schlucht. Bald näherten sie sich dem ersten Wohnhaus. Der Garten sah wüst aus, der Stotzhag darum lag vom Schneedruck am Boden. Die Männer klopften an die Türe — keine Antwort. Sie öffneten und traten ein — niemand daheim. Schauerliche Leere im nächsten Dutzend Häuser, vom Keller zum Russgaden. Die Frauen zitterten an allen Gliedern, das Mannsvolk erblasste. Auf einmal schraken alle zusammen; ein schwarzer Zottelhund kam in grossen Sätzen herangesprungen, jaulte und kehrte wieder um. Die Isenflüher folgten ihm, und er führte sie zum Hause, wo im verwichenen Sommer die Brüder Chuoni und Toni gewohnt hatten. Auf dem Bänklein an der braunen Hauswand sass ein Mann. Sein Haar war weisser als Kirschblust; er sah aus, als ob man ihn eben aus der Erde herausgenommen. Das Augenwasser ging ihm über, als die Leute um ihn standen; aber die merkten bald, er hatte Sinn und Gedanken nicht mehr beisammen. Sie kannten ihn alle, es war Chuoni, der im Sommer zuvor noch ein Jüngling mit blondem Haar und pfeifengerade gewesen. Vor ihm stand ein lustiger, springiger Rocklibub. Neben dem Hause naschten drei Ziegen das erste Grün. Das war, was man noch Lebendiges fand, alles andere, Menschen wie Vieh, war weggestorben. Die Isenflüher drangen um Red in Chuoni; der Einsame blieb stumm wie der Fisch im Bach.

Aber bei der Kapelle oben sahen sie der lieben und ihnen so gut bekannten Sauser Grabstätten alle. Chuoni, der Knabe, der schwarze Hund und die drei Ziegen wurden mit nach Isenfluh hinunter genommen. Der alt erscheinende Überlebende war an Leib und Seele gebrochen. Man wusste, er werde den Kuckuck nimmer mehr schreien hören. Bevor er aber starb, konnte er noch erzählen, dass eine Pestilenz in Saus eingedrungen, und er den letzten Toten begraben habe. Auf dem Heimweg vom Gottesacker sei noch ein weinendes Rocklibuobli an ihn gelaufen, er könne aber mit bestem Wissen und Gewissen nicht mehr sagen, aus welcher Rustig (Sippe) es stamme. Nachher sei er mit dem Kindli in sein Häuslein gegangen und wartend gewesen, dass der Sterbet auch über sie komme. Der ging aber an ihnen vorbei. Wegen dem Buobi fristete er sein einsames Dasein, und als der Schnee zu Tale rann, stieg er nicht hinunter, aus Angst, die furchtbare Seuche weiter zu verbreiten.

Da auch unten in Isenfluh niemand den Rocklibuob namsen konnte, sagte man dem Heimatlosen: "Sauser". Als er gross geworden, wurde er Landsass in Sigriswil(Heimatloser, der einer Gemeinde zugeteilt wurde), wo seine Nachfahren heute noch leben.

Das Dörflein Saus wurde nie mehr besiedelt. Die Häuser zerfielen, und man weiss kaum, wo sie einst gestanden.

Quelle: Hans Michel, Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Wengen 1936.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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