Der Hirt von Helisee

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Man hat bisher in keiner höhern Landesgegend der Schweiz Überbleibsel von Festungswerken, Gräbern und Wohnstätten einer längst verschwundenen und vergessenen Vorwelt erblickt als beim Dörfchen Ellisried, im bernischen Oberlande, ohnweit Grasburg und Schwarzenburg. Es senkt sich da der zackige Kamm des Gebirgs vom Stockhorn über den Ganterisch, Gurnigel und Guggisberg zwischen den Strömen der Sense und des Schwarzwassers nieder. Dass auch die Römer dort gehauset haben mögen, beurkunden zwar noch die häufigen Ziegelstücke römischer Art, die man nicht gar tief unter der Erde zerstreut antrifft. Aber ohne Zweiſel fanden sie hier schon bei ihrem Eindringen eine helvetische Stadt, wie sie auch schon das alte Windisch fanden, oder die grosse Wiflisburg, letztere nur etwa drei Stunden von dieser Berggegend entfernt. Wenigstens war die Lage des Orts weder für Handelsverkehr, noch Kriegsverhältnisse einladend; hier kein Fluss, kein grosser See, keine Strasse über das Gebirg. Selbst was sich noch von dem runden Erdwall, und dem Graben darum, erkennen lässt, verräth kaum römisches Werk.

Inzwischen beharrt aus ältester Zeit die Sage dieser Gegenden, dass da einst eine Stadt gestanden, als noch von Wäldern umkränzt, dort ein geweihter See erblickt wurde. Er ward der Helisee genannt und ebenso die Stadt. Auch der See, welcher wohl nie von beträchtlichem Umfang war, hat sich verloren, vermuthlich mit den Quellen, die ihn ehemals nährten. Er ward zum Moor, dann zum feuchten Grund und Ried. Die Namen der Ortschaften Ellisried, Gazenried, Kumried usw. dort herum, deuten noch darauf zurück.

In den Tagen vor der christlichen Kirchentrennung fand sogar ein junger Hirt, welchen man den schönen Erni nannte, in einem kleinen unterirdischen Gewölbe, ein zwei Schuh hohes Marmorbild. Er war der Sohn einer armen Wittwe, deren zwei Kühe und deren Ziegen er hirtete, und auf deren Gebot er Mauerschutt, welcher sich unter der Oberfläche des Rasens, in einem abgelegenen Gebüsch zeigte, hinwegräumen musste, vielleicht einen verborgnen Schatz zu entdecken. Das Marmorbild war eine zarte, weibliche Gestalt, von ungemeiner Anmuth; mit einem Gesicht voller Kindlichkeit und Majestät. Ein langes faltenreiches Gewand floss von den halbentblössten Achseln bis zu den Füssen nieder, die unter dem Saum des für diese Gestalt offenbar zu langen Gewandes, wie unter einem Hügel von Falten, begraben lagen. Um den schlanken Leib spannte sich ein breiter Gürtel, in dessen Mitte ein Sonnenbild zu sehen war. Die Bildsäule ruhte auf einem schwarzen Stein, worin fünf Buchstaben gegraben waren.

Erni, den die wunderbare Schönheit dieser jungfräulichen Gestalt fast bis zur Anbetung begeisterte, zweifelte nicht, dass es das Bild einer Heiligen sey. Er verheimlichte es, sprach selbst seiner Mutter nicht davon, aus Furcht, man werde ihm die geliebte Bildsäule nehmen. Aber den schwarzen Stein trug er zum Pfarrer vom Wahleren, um doch aus der Inschrift den Namen seiner Heiligen zu erfahren. Dieser aber las den Namen H e l v a, schüttelte den Kopf, behauptete, es sey das keine Heilige und behielt den Stein.

Heilige oder nicht, Erni kniete oft entzückt vor dieser kindlichschönen Helva; betete mit Inbrunst, wieviel Gebete er erlernt hatte; küsste anfangs nur mit Ehrfurcht den faltigen Saum ihres Gewandes; endlich vertraulicher auch das niedliche Köpfchen, trotz der Hoheit und Würde in dessen Mienen. Die Schönste der schönen Guggisbergerinnen hatte ihn nie so gerührt, wie zierlich sie sich auch das bunte Tuch um's Haupt schlangen und wie rosenfarben die Knien unter dem Saum ihres kurzen Rocks hervorschimmern mochten. Er hatte das gefährliche Alter von 25 Jahren erreicht, ohne zu wissen, wo sein Herz in ihm war. Während er die lebendigen Mädchen bisher, die ihn doch den schönen Erni nannten, gleichgültig ansah, als wären sie von Stein gemacht, liebte er jetzt den Marmorstein in hirtlicher Einsamkeit, als wär‘ er lebendig. Oft nahm er das kalte Gebilde in seinen Arm, als könnt‘ er es erwarmen; und zuweilen glaubt‘ er den jugendlichen Busen desselben vom Athmen sich heben und senken zu sehen. So lag er auch im abendlichen Zwielicht an einer zerrissenen Felswand im Gebüsch, als er mit Erstaunen zu seinen Füssen ein kleines, raues Männlein mit schneeweissem Haar erblickte. Das lächelte ihn an und sagte: „Fürchte dich nicht, denn ich bin Mungg, Helva‘s Bruder. Gieb mir das Bild meiner Schwester, ich gebe dir dafür die schönste Jungfrau, die im Gebirg wohnt.“

Aber Erni rief mit Grausen: „Hebe dich von mir! Sonne und Mond bescheinen nichts, das der Schönheit meiner Heiligen gleicht.“ Der Alte gehorchte und ging lächelnd davon. Aber siehe, da kam ein andrer, kaum drei Schuss hoch, der am Arme einen Korb trug, von Kristallen geflochten, angefüllt mit edeln, durchsichtigen Steinen, die alle Farben blitzten. Auch er lächelte freundlich und sprach: „Fürchte dich nicht, denn ich bin Eiger, Helva‘s Bruder. Gieb mir das Bild meiner Schwester, ich gebe dir dafür diese Demanten, Rubinen und Sapphire, köstlicher als aller Könige Schatz.“ Doch Erni erwiderte mit Unwillen: „Hebe dich von mir! Sonne und Mond bescheinen nichts, das an Kostbarkeit meiner Heiligen gleicht.“ Auch dieser Alte wandte sich lächelnd, doch gehorsam, hinweg und verlor sich im Gesträuch. Erni aber umfasste die geliebte Gestalt nur mit grösserer Innigkeit in seinen Armen, und als wollt‘ er den unempfindlichen Stein in seinen Träumen beleben, schloss er die Augen.

Doch sonderbar klang ihm ein Ton in's Gehör, rein, durchdringend, zart und weich, wie die Stimme der Harfensaite im Winde: „Fürchte dich nicht, denn ich bin Helva, die Alpenkönigin. Gieb mir das Bild und liebe mich selber. Der Mensch soll keine Götter haben neben Gott.“

Er öffnete die Augen und wähnte den Himmel vor sich offen zu sehn. Das Laub der Gebüsche und Bäume um ihn her schimmerte in einem milden Licht, wie es der Tag nicht, aber auch wie es die Nacht nicht bringt. Von allen Seiten erblickt er in diesem Lichtschimmer niedliche, wundersame Mädchengestalten, zwar alle nur von der Grösse fünfjähriger Kinder, aber nicht in deren unvollendetem Wuchs, sondern im feinsten Ebenmaass jungfräulichen Gliederbaus ausgebildet. Wie im Himmel der Maler die Engel zwischen Wolken, schwebten diese zierlichen Huldinnen unter den Blüthen der Gebüsche, oder wiegten sich in anmuthigen Stellungen, sitzend und gehend, auf den Zweigen derselben. Aller Gewande fielen verhüllend und faltig weit über die Füsschen nieder; insgesammt weiss und doch mannigfach, wie erröthend, erblassend, ergrünend, in andre Färbung hinüberschillernd. Man konnte ihren Stoff nicht erkennen. Es war kein Gewebe; es glich dem Wasser, wenn es, glänzend und beweglich, über dem Felsen, wie ein wehender Schleier, schwebend fällt. Jede einzelne dieser Jungfrauen war für sich allein so schön, dass ihr nichts in ihrer Eigenthümlichkeit vergleichbar seyn konnte. Und doch stand in der Mitte derselben die Alpenkönigin, als wäre sie die Alleinschöne. Lilien und Nelken, Tulipanen und Rosen, Veilchen und Aurikeln, Hyazynthen und Dalien, alle einzeln sind bewundernswürdig, und doch prangt im Chor der Blumen die Rose mit einem Zauber, als wäre sie die Alleinbewunderungswürdige.

Erni vor ihr auf den Knien, rieſ: „Helva, meine Heilige!“ Sie antwortete: „Heilig allein ist Gott! Wir sind Werke seiner Hand, wie die Menschen, wenn auch Wesen andrer Art, denn sie. Einst liebt‘ ich unter den Sterblichen zu wandeln, ihnen sichtbar und hülfreich, hier am heiligen See, bis sie das Geschöpf statt des Schöpfers verehrten. Zertrümmere dies Bild, Jüngling, liebe mich, bete Gott an.“

Er zertrümmerte das Bild und sagte: „Wie darf ich dich lieben, du Wesen höherer Art?“ Die Jungfrau antwortete: „Wie die Taube, oder das Lamm, oder der treue Hund den Menschen als ein höheres Wesen liebt: So liebe mich; so darf ich dich lieben. Kannst du es, so folge mir nach in meine Wohnungen und lebe ohne Sünde bei mir. Ich will dir die ewigen Wunder der Allmacht zeigen. Wehe aber, wenn du der Sünde zufällst!“

Hier floss ein Schauer durch Erni's Glieder und er fragte: „Was ist Sünde in deinen Wohnungen?“ Sie antwortete: „Was sie im Himmel und auf Erden ist, Empörung gegen die Natur, die da ist Gottesgesetz. Darum waltet in den Gesetzen und Kirchen der Menschen des Sündlichen so viel, wegen des Streites mit der Natur; und darum wohnt im Leben der Sterblichen des Leidens so viel. Wenn der Mensch ein Thier auf thierische Weise liebgewinnt, ist er Sünder; und du bist es, wenn du mich menschlich, wie eine menschliche Jungfrau, liebgewinnst: Ich warne dich!“

„O du Überirdische, wie könnt‘ ich dich anders lieben, denn als eine Göttlichere!“ rief Erni.

„Nimm mich zu dir. Verlass mich nicht.“

Da legte sie zärtlich ihre Hände auf seine Achseln, und sprach: «Ich liebe dich ja!» Und die Begleiterinnen Helva's umringten freudig, wie schwebend in den Lüften, das Paar, und jauchzten mit süssen Stimmen. Helva neigte aber ihr Haupt zum Haupt des seligen Jünglings, ihre Lippen zu seinen Lippen. Er küsste sie zitternd und doch, als wollt' er ihr ganzes Wesen einathmen und eintrinken. Ihr Kuss aber war wie der Seufzer eines lauen Frühlingslüftchens, ein Hauchen gegen das Innere seines Mundes. Es durchdrang ihn, wie ein zweites Leben.

„Folge mir!“ sagte sie und wandelte gegen eine Spalte der Felswand, in die sie glänzend eindrang. Der Hirt von Helisee zögerte einen Augenblick, aber ungewiss, ob seine Gestalt sich gegen die Spalte verdünnerte, oder ob diese sich gegen ihn erweiterte. Er fand Raum und folgte ihr, und alle von der Begleitung der Alpenkönigin, wie er.

Bald ging die nasskalte Bergkluft in glänzende Kristallhöhlen auseinander und von den Höhlen zogen sich Gänge nach allen Richtungen. Man hörte Quellen rauschen mit melodischem Getön; man sah die hohen Gangwände und Gewölbe von einem prachtvollen Geader der Silber-, Gold- und Pratina-, der Kupfer- und Zinnstufen durchlaufen. Doch dies alles erregte Erni's' Verwunderung kaum so sehr, als dass Helva und ihre reizenden Gespielinnen hier nicht mehr klein waren, sondern hohen Jungfrauen vom edelsten Wuchs glichen, ihm an Grösse beinah gleich. Nur wusst‘ er nicht zu bestimmen, ob sie in dieser Unterwelt höher gewachsen wären, oder er sich zu ihrer niedlichen Kleinheit verjüngt habe, weil jeder vergleichende Massstab für ihn mangelte.

Als der traumhaft wandernde Zug, wie unter hohen Tempelgewölben von Granit, mit Perlenglanz des Glimmers schimmernd, weiter gekommen war, zitterte Erni neben der Alpenkönigin; denn er fühlte zuweilen unter seinen Sohlen nur Luft statt des festen Bodens. „Fürchte dich nicht, denn ich bin Helva!“ sagte sie: „Wo die Luft dichter wird, schwimmt zuletzt das Schwere in ihr als Leichtes, wie im Wasser das Holz!“ Und bei diesen Worten schlang die Schöne des unterirdischen Reichs ihren Arm um ihn, drückte den Jüngling sanft an ihre Brust und hauchte ihm zärtlich ihren Kuss an. „Fürchte dich nicht!“ sagte sie am Ausgang der Felsen, wo sich ein unendlicher Abgrund nach unten und nach oben vor ihnen zeigte: „Wir stehn am hohlen Innern der Erdwelt!“ Damit drückte sie ihn noch einmal an ihre Brust und stürzte mit ihm in das unempfindbare Leere, in das stille Nichts hinein, wie in einen Nachthimmel. Aber in der Tiefe drunten wie oben in der Höhe funkelten bläuliche, röthliche, weissliche Lichter, wie Millionen Sterne; es war nicht hell, und doch heiter. Und Helva‘s Gespielen gaukelten in eigenthümlichem Lichtglanz mit Gesang durch diesen Sternenhimmel, wie wunderbare Meteore. Erni's Herz pochte nicht mehr furchtsam, aber selig, indem er, wie Helva ihn, so er ihren Göttinnenleib mit seinem Arm umwunden hielt.

Unerwartet fand sich wieder festes Land. Und wieder traten ihnen Säulenhallen entgegen, hochgewölbt und erleuchtet, als wären sie selber aus Strahlen gebaut. Als man, nach geraumer Zeit im weiten Bogengang dahin gekommen war, wo zur Linken und Rechten breite Kristallstrassen ausliefen, sagte Helva: „Siehe, links führt der Weg zur Wohnung Munggs, meines Bruders; rechts zum Palaste Eigers, meines Bruders; mitten inne mein jungfräuliches Gemach, das dich beherbergen wird. Es ragen unsre ewigen Häuser über die Länder der Menschen hinweg bis zu den Wolken des Himmels; und unsre Dächer sind aus ewigem Eise gebaut. Zieh nun ein in meine Hallen, o mein sterblicher Liebling; mir hat sie mein Vater errichtet und ausgeschmückt; mein Vater, der Allerregende, Allbewegende, Jol, der Sohn Aethers, Jol, das ewige Licht!“

Man erzählt, Erni hab` im Palast der Jungfrau unaussprechliche Seligkeiten genossen; doch niemand weiss, wie sie beschaffen waren, eben weil sie nicht ausgesprochen werden konnten. Auch soll ihm durch den Anhauch der Alpenkönigin zu seinen fünf Sinnen ein sechster aufgeschlossen worden sein, also, dass er, wohin er sich in der Welt mit seinen Gedanken versetzte, alles wahrnahm, was daselbst wohnte und geschah. Ihm zeigt Eiger, der Bruder Helva`s, das Spiel der Stoffe und Kräfte; wie sich unsichtbare Gase in Spathe, Kristallen und Erze verkörpern; zeigte ihm die ungeheuren Seen der Unterwelt, aus welchen die Hunger- und Maibrunnen, wie die unvergänglichen Quellen der Oberwelt rinnen; desgleichen die wundersamen Werkstätten, in denen die Heilwasser und heissen Quellen bereitet werden, oder die Erdbeben sich entwickeln. Hier war eine andre Welt, eine ander Schöpfungspracht, eine andre Naturgrösse, als droben auf der Erdoberfläche. Aber die Schratten und Elfen genossen beider. Doch in der Oberwelt, wo sie sich oft ergeh`n, bedürfen sie andrer Lebensweise und Nahrung. Mungg, der Bruder Helva`s, zeigte dem schönen Erni, auf den Giebeln der Gletscher, die Herden seiner Gemsen, Steinböcke, Murmelthiere, die Nester seiner Steinadler und des übrigen Gewildes der Höhen, die den Schratten und Elfen droben zur Lust und Speise dienen.

Jeden Tag fragte die reizende Alpenkönigin ihren Liebling: „Wie gefällt es dir bei uns?“ und jeden Tag antwortete er: „O, dass ich ewig bei dir wohnen könnte!“ - „Armer Sterblicher,“ sagte sie, „du bist, als unvollkommeneres Geschöpf, weit schnelleren Verwandlungen unterworfen, denn wir, auf höheren Stufen in der Reihe der Wesen. Dein Jahr ist unser Tag. Dein Wohnplatz auf der Erdenrinde draussen, mit allen ihren Ländern und Weltmeeren, allen Paradiesen und Wüsten, ist nur eine kleine Abtheilung unsers eignen Wohnplatzes, der das Äussere wie das Innere des Weltballs in sich fasst. Alles ist drinnen wie draussen belebt; alles ewig in der Stadt der Unendlichkeit; nirgens Tod des Wesenden, weil in Gott kein Tod ist.“

„Ach!“ seufzte Erni, „dass du eine Sterbliche wärest, oder dass ich wäre wie du!“

Helva antwortete ihm: „Dein Wunsch ist menschlich-verwegen, und dünkt mich närrisch. Was würdest du von deinem treuen Haushund sagen, wenn er verlangte, Gott solle dich zu Seinesgleichen umschaffen? Und wie das Thier, traumhaft und trübe in seinen Vorstellungen, zum Menschen steht: so steht der Mensch mit seinem Witz und Scharfsinn, trüb und traumhaft, zu uns. Sein Geist blicke unter sich in die Tiefen der Natur, oder über sich in das Überirdische, überall findet er Dunkelheiten, unentwirrbare Räthsel, und, statt der Erkenntnis, bleibt ihm nur Ahnen und Glauben. Wir aber, wenn wir durch die Abstufungen der Seelen, des Lebens, der Naturkräfte und Stoffe hinunterschau`n, erkennen mit Klarheit, und freuen uns des Wissens, wo der Sterbliche nur Ahnung in sich trägt. Doch auch für uns, wenn wir über uns in Glanz und Herrlichkeit des Gottesreichs schau`n, bleibt dann nur stilles Ahnen übrig, und auch wir erkennen, wie tief wir dasteh`n!“

Der schöne Erni verstand von allem, was sie sagte, keine Silbe; auch bekümmerte ihn das wenig. Er achtete nur auf die lieblichen Bewegungen der Lippen, wenn sie sprach; auf das heilige Erglänzen ihrer Augen; auf das zärtliche Lächeln, welches in ihrem Antlitz, wie sichtbare Seligkeit, wohnte. Dann umfing er sie mit seinen Armen; dann küsste er diese Lippen, diese Augen, dieses Lächeln, und er wusste selbst nicht, wie ihm dabei ward; er wusste nicht, dass er seine Heilige jeden Tag menschlicher liebte. Und wie konnt`er anders, der Arme!

Immer wandelte er bei ihr; immer blühte sie reizender vor ihm. Nur jeden Tag eine einzige Stunde entferte sie sich von ihm, um, wie sie sagte, ein Bad zu nehmen. Dahin durft` er nicht folgen.

Fünf Tage lang zwar überwand er sich, aus Furcht vor Helva`s Zorn, sogar nicht einmal an die Badegrotte zu denken. Aber am sechsten Tage versetzte er sich in Gedanken dahin; er war diesen Gedanken und ihrer wilden Sehnsucht nicht länger Meister. „Was ich denke, kann sie nicht wissen!“ meine er. Und: „Denken ist noch keine Missethat!“ setzte er hinzu.

Da fand er sich, wie im Traume, auf dem Weg zur Grotte, und vor derselben einen feuerfarbenen Vorhang; aber durchaus sah er nicht, was hinter demselben vorging.

Nun erst bedachte er, dass er mit Hilfe seines sechsten Sinnes zwar alles Irdische, jede Gegend, jedes Treiben und Thun von Menschen und Thieren gegenwärtig zaubern konnte, aber nie war er fähig, der abwesenden Schratten und Elfen Arbeit und Leben zu beobachten. Das machte ihn nun traurig. Er sass betrübt und still da, als dieAlpenkönigin wieder zu ihm trat, liebenswürdiger, denn er sie je geseh`n. Sie bemerkte seinen Kummer. Sie fürchtete, ihn quäle Langeweile und Heimweh zu den Menschen. Sie beugte sich liebkosend über ihn nieder, schmeichelte ihm voll des zärtlichsten Mitleids. Doch diese Liebkosungen, statt die geheime Gluth seines Innern zu löschen, fachten sie nur gewaltiger an.

Und, als Helva am siebenten Tage wieder zur heiligen Grotte gegangen war, vermocht`er`s nicht länger über sich. Er schlich ihr nach. Er stand an dem feuerfarbenen Vorhang. Er zitterte. Er bewegte die Strahlendecke zurück und sah in das Heiligthum, wo die schöne Helva im Bade sass. Aber dies Bad war nur ein rosenfarbenes Gewölk, in welchem die Jungfrau zur Hälfte eingetaucht, ihm ihren alabasterweissen Rücken zukehrte, während zwei dienende Elfen einen aus dem Gewölk hervorgestreckten Fuss ihrer Königin küssten. Dies Füsschen, welches er noch nie unter dem langen, faltenvollen Gewande geseh`n hatte, war kein gewöhnlicher Mädchenfuss, sondern ging sonderbar, wie ein Fächer, auseinander mit Schwimmhaut und glänzenden Federn.

Die Elfen erblickten den sündigen Sterblichen und schrieen voll Grausens laut auf, tauchten ihre Hände in das Rosengewölk und sprengten ihm davon entgegen. Es fuhr ihm in die Augen, wie stechende Funken. Er sah nichts mehr. In seiner Blindheit taumelte er mit Entsetzen zurück und her und hin. Um ihn war ein Donnern und Toben, als bräche das weite Weltgebäu über seinem Haupt zusammen. Er schwankte zitternd und stürzte endlich nieder. Zum Glück aber fingen ihn zwei Arme auf und eine rauhe Männerstimme sprach: „Taugenichts, wo schwärmst du seit sieben Jahren herum, und kömmst nun, elender denn ein Bettler, nach Ellisried zurück in diesen Kleidern, die verfault und verwes`t sind?“

„Wer bist du? Ich sehe dich nicht. O ich bin blind!“

„Ich bin der Bruder deiner Mutter, die vor Gram und Herzeleid vor sechs Jahren gestorben ist.“

Da weinte Erni bitterlich und liess sich ins`s Dorf führen. Die Mädchen kannten den schönen Erni nicht mehr; er glich einem hageren Gespenst. Und wenn er von den ausserordentlichen Dingen erzählte, die ihm begegnet waren, wollte man ihm kaum glauben. Er aber seufzte immer den Namen Helva`s; verschmähte Speis`und Trank, und starb am dritten Tage mit dem Seufzer: Helva!

Aus: Heinrich Zschokke, in: Rheinisches Taschenbuch auf das Jahr, Frankfurt a Main 1831.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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