Das schreiende Bächlein

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Am Ostabhange des Oberlaubhornes stand in uralter Zeit ein braunes Hüttlein, in welchem eine arme Familie hauste.

Der erste Frost war eben übers Land gestrichen, so dass die Natur in allen ihren Herbstesfarben dastand und die Blätter wirbelnd in der Luft herumtanzten.

Der Vater war im Wald und fällte Erlen, so dass sie krachend auf den Boden stürzten; sein Töchterlein brachte ihm in einem Bündlein den Imbiss und das Mittagessen in das Holz. Die Mutter blieb zu Hause und tat am liebsten nichts.

Da wurde die Familie um ein gar zartes und blondes Haupt grösser: ein Brüderchen kam noch hinzu.

Das Schwesterlein konnte nicht aufhören, es zu lieben und zu Herzen; aber der Vater machte ein finsteres Gesicht, und die Mutter sang ihm keine Wiegenlieder.

Nachdem sie die Sonne lange Zeit nicht mehr gesehen hatten, kam der Tag, da das Schwesterlein zur Mittagsstunde am Fensterlein passte, um die ersten Sonnenstrahlen auf die Wiege des Brüderleins fallen zu sehen. Und täglich stieg die goldene Segenspenderin höher und höher, so dass die Matten bald wieder grün, und die Brust der Menschen weiter wurde.

Nur im Hüttlein am Oberlaubhorn wollten die Herzen nicht wärmer schlagen. Denn auch das Knäblein hatte etwas wie Lenzesluft verspürt, schrie lebenskräftig in den Tag hinaus, als müsse alle Welt erfahren, was in seinem kleinen Herzen vorging.

Allein die Mutter hörte es nicht gerne; denn sie mochte das Knäblein nicht mehr gaumen, und der Vater runzelte seine finstere Stirn; denn er musste künftig immer fleissiger hacken und sägen, weil sein Vögelein im Nest auch immer mehr nach Nahrung schrie.

So beratschlagten denn eines Abends die beiden Eltern miteinander, was anzufangen sei, um dem Übel abzuhelfen. Und sie kamen überein, das junge, frische Lebensflämmlein des Brüderchens zu löschen.

Der Vater nahm das Kind in das Holz hinaus und tötete es, und die Mutter warf die Fleischstücke in den Topf und kochte sie. Hierauf vergruben sie die Reste im Boden.

Allein, wenn man hier vorbeiging, hörte man aus der Erde Geschrei und Gewinsel, und wenn man das Ohr auf den Boden hielt, vernahm man deutlich, dass die Knochen seufzten:

„D's Muetterli het mi trage,

Der Atteli het mi g'schlage,

Und d's Schwesterli het mi g'nage."

Da stiegen einst rüstige Bauern aus dem Tale bis zu dieser Stelle hinauf, nahmen Pickel und Schaufel mit sich und begannen zu graben. Nicht lange, so kamen die armen Überreste des kleinen Geschöpfes zum Vorschein, und da die Schwester eben herbeikam und die genagten Knochen des Brüderchens berührte, fingen sie an zu bluten und heulten:

„D's Muetterli het mi trage,

Der Atteli het mi g'schlage,

Und d's Schwesterli het mi g'nage."

Die Bauern flohen von dieser unseligen Stelle; aber der Graben, den sie damals gepickelt haben, ist noch heute zu sehen, und seit jener Stunde fliesst hier Wasser aus der Erde; es heisst das schreiende Bächlein.

Jedesmal im Frühling, wenn die Sonne zum ersten Male wieder die beschneiten Tannen so blendend versilbert, wenn sie die ersten Blicke auf die Oberriedhäuser wirft und Lenzesluft über die Abhänge des Oberlaubhornes streicht, fängt das Bächlein von Neuem an zu fliessen, und ganz besonders im Herbst, wenn die Bauern im Holz sind und Erlen fällen, lässt das schreiende Bächlein seine traurigen Weisen in das Tal hinunter wimmern.

 

Quelle: Georg Küffer, Lenker Sagen. Frauenfeld 1916. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch

 

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