Ahasver (H. Hartmann)

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Als Ahasver auf seiner ewigen Wanderung zum erstenmal die Alpen überschritt, wählte er die Grimsel zum Übergangspunkte. Entfesselt bis zu ihren Quellen, welche aus dem Schosse der Berge hervorbrachen, rauschten Rhone und Aare. Wie jetzt an dem fröhlichen Rheinstrome, lebte ein munteres Geschlecht an ihren Ufern. Die sonnigen Raine waren umkränzt von Reben und Eichen. Buchen wiegten ihre grünen Häupter in den lauen Winden einer warmen Luft und Scharen von Singvögeln belebten die dichten Waldungen. Hinter Obstbäumen versteckt, ragten stattliche Dörfer inmitten des fruchtbaren Geländes. Wo der Wanderer anpochte, trat man ihm freundlich entgegen und lud ihn gastfreundlich ein, sich zu erquicken an dem edlen Weine, den die Halden in überschwänglicher Menge lieferten. Aus den hellen Wohnungen, den frischen Gesichtern der Kinder wie der Alten, glänzte das Wohlbehagen. Aber nicht weilen durfte der Unselige in dem Lande des Glückes; sein irrer Fuss trug ihn weiter nach Norden.

Mancher Jahreswechsel war über des nimmer Ruhenden Haupt dahingerauscht. Da fand er sich einst wieder in der Nähe der Alpen. Er gedachte des glücklichen Volkes, das er damals getroffen, der gewinnenden Herzlichkeit, womit er empfangen und erquickt worden war, des schönen Landes, das er ehedem durchstreift. Er beschloss, sein Herz wieder einmal an dem Anblicke zu laben. Aber düstere Ahnungen beklemmten seine Brust, als er vom jungen Lauf der Rhone die Maienwand zur Passhöhe der Grimsel hinanschritt. Dicker Nebel verbarg ihm das umliegende Land. Droben angelangt, sah er ihn zerstieben vor einem gewaltigen Windstosse, welcher aus dem Haslital hervorbrach. Er glaubte verirrt zu sein. Dunkle Fichtenwälder bedeckten die steilen Flanken des Gebirges, die hohen Stämme knarrten unter der Wucht des Sturmes, der ihre Wipfel schüttelte, und heisere Raben nur und lichtscheue Eulen begleiteten mit misstönendem Krächzen und wimmerndem Klageton das Geheul des Windes in den finstern Klüften. Er suchte lange, lange vergebens nach menschlichen Wohnungen. Endlich fand er ein paar Hütten, dann wieder etliche. Die Köhler, welche dieselben bewohnten, ein gutmütiger, aber ernster und schweigsamer Stamm, teilten mit ihm, was sie hatten, schwarzes Brot und Bier, aus den jungen Sprossen der Tanne gebraut.

Abermals, nach vielen Jahren, betrat der ewige Jude das bekannte Gebirg. Der Pfad, den er früher gewandelt, war verschüttet. Kein Vogelgesang, kein Rabengekrächz schallte ihm entgegen. Über kahle, nackte Felsen strauchelte sein Fuss. Hie und da nur grünte ein spärlicher Grashalm. Todesschweigen herrschte ringsum. Selten nur pfiff in durchdringendem Tone das scheue Murmeltier. Und an den Bergeshalden, wo früher Reben gegrünt und Eichen das lockige Haupt gewiegt hatten, an denselben Halden, die später Fichten getragen, da hingen jetzt mächtige Eismassen herab, und die wilden Schluchten waren erfüllt von gigantischen Gletschern. Aus dem Schnee aber ragten zerrissene Felsnadeln in finsterer Majestät, welche sich gegen den Himmel zu schwingen schienen und den eisigen Winden trotzten, die um ihre Gipfel schnoben. Von Menschen sah Ahasver keine Spur, und er, der Verfluchte, war das einzige Wesen dieses Geschlechts in der Gegend, das mit ihm unter ähnlichem Fluche zu seufzen schien. Ahasver, so berichtet die Sage, setzte sich auf einen Stein in der Tiefe des Tales, wo rings um ihn herum die Felswände ihn einschlossen und weinte. Es war zum ersten Male, dass er sass, zum ersten Male, dass er weinte, und seine Tränen schwollen an, und als er erleichterten Herzens den Rücken wandte, um in das Haslital hinabzusteigen zu bewohnten Gefilden, hatten die Tränen einen kleinen See gebildet. Dessen Wasser sind, trotz der vielen Zuflüsse aus den Gletschern, warm wie die ersten Tränen Ahasvers.

Wer weiss, wenn er jetzt herabstiege auf dem gewundenen Pfade von dem Totensee her, dem stillen Grabe der treuen Österreicher, die dort den Felsenpass furchtlos verteidigten gegen das gewaltige Anstürmen der zerlumpten französischen Freiheitsapostel, wer weiss, wenn er dann dort unten den hohen Schornstein rauchen sähe und die freundlichen Fenster eines Hospizes im Sonnenscheine blinken, wenn das Gebell der Hunde an sein Ohr schlüge, würde er sich dann nicht vielleicht die Augen reiben, und sich die Gegend ansehen und zweifeln, ob es dieselbe sei, oder ob nicht neuerdings eine bessere Zeit bis in die höchsten Berge des Oberlandes hinaufgestiegen sei?

Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910. 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

 

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