Die Frau vom Schafloch

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Auf einer der Alpen am Sigriswiler Rothorn schlief einst ein blühender Knabe bei seiner Herde. Da träumte ihm, er vernehme ein fernes Klingen und silbernen Glockenton. Wie er sich umsah, gewahrte er eine schöne Frau, die seinem weissen Leithammel eine Schelle umhängte. Dann neigte sie sich zu ihm selber hinab, indem sie ein Lied sang, darob er gar nicht erwachen konnte. Da winkte sie ihm. Er musste aufspringen und ihr folgen. An der Felswand ging es auf handbreitem Pfade entlang bis sich der Fels wie in einem Torbogen öffnete. Tief hinein drangen sie ins Dunkle. Nur die Augen der Frau funkelten mit einem wunderbaren Edelstein, den sie auf dem Haupte trug um die Wette. Zuletzt musste der Hirtenbub sich an ihrem goldenen Gürtel halten, der ihr weites weisses Faltenkleid zusammenhielt. Bald fröstelte es ihn, da der unterirdische Pfad über Gletscher führte, bald lief es ihm heiss den Rücken hinauf. Jetzt schimmerte es aus einer neuen Höhle so hell, dass seine Augen vom Glanze geblendet wurden. Ihm schien, als möchte er sich schlafen legen, waren doch seine Glieder wie Blei. Da reichte ihm seine Begleiterin einen goldenen Becher dar, und als er in vollen Zügen daraus trank, ging es wie ein Feuerstrom durch seinen Leib. Doch die Sehnsucht nach der Aussenwelt war in ihm nicht erloschen. Er dachte an sein Mütterlein und musste fast weinen.

Da sprach die schöne Frau: "Denke nicht an die Welt. Du darfst nur mir gehören!" Und sie reichte ihm einen neuen Becher dar, der hiess "Vergessen". Lange lebte er so im Traume dahin. Da war ihm einst, als wehe eine kalte Luft um ihn her, als seien seine Füsse eiskalt. Nur über sein Gesicht strich ein warmer Odem, auf seine Hände drückten sich feuchte Lippen und eine Stimme sprach vernehmlich seinen Namen. Da griff er nach dem andern Becher von welchem die schöne Frau gesagt hatte, dass er "Wiedererinnern" enthalte. Plötzlich vernahm er jetzt einen heftigen Schrei. Er öffnete die Augen - dunkel war s um ihn her. Nur ein schwaches, rotes Fackellicht erleuchtete den Felsenraum. Er lag auf einer Bahre. Neben ihm kniete sein Mütterlein auf dem Eise und zu seinen Füssen winselte sein treuer Hund. Männer trugen ihn dann hinaus aus der Gletscherhöhle, hinab in das stille Häuslein seiner Mutter. Und er selbst wurde ein stiller Mensch. Er ging zu den Kranken, gab ihnen gute Arznei und linderte ihre Schmerzen so viel er vermochte. Wenn aber die Anverwandten in Kummer und Ängsten um die Kranken trauerten, dann beugte er sich lächelnd über diese und sprach leise jene Worte vom Vergessen welche er einst bei der Frau im Felsengelasse gelehrt. Und siehe, der Schmerz war wie weggewischt.

Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910. 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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