Der Fischer

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Ein König wollte einmal ein grosses Festessen geben. Und er liess verkünden, dass er den Fischer reich belohnen wolle, welcher ihm Fische in Hülle und Fülle liefere. Unter den Fischern, die sich dem König vorstellten, war der Vater einer Kinderschar. Mit ihm schloss der König einen Vertrag, aber gleichzeitig sagte er, im Fall, dass er ihm nicht genug Fische liefere, werde dies ihm das Leben kosten.

Am andern Morgen in der Frühe nahm der Fischer sein Netz und ging zum Strand. Aber all seine Mühe war umsonst, er fing keinen einzigen Fisch. Auch am zweiten Tag fischte er erfolglos. Am dritten Tag fing er einen so riesigen Fisch, dass er seine ganze Kraft aufwenden musste, um ihn aus dem Wasser zu ziehen. Da fing dieser Fisch an zu sprechen: «Schlitze mich auf und nimm die Eingeweide heraus - das Herz gib deiner Frau, die Lunge deiner Stute, die Leber deiner Hündin, und die Galle vergrab im Garten! Den Rest bring ins Schloss des Königs. Es wird für sein Festessen reichen.»

Der Fischer machte dies so, und der König gab ihm einen Beutel voll Goldmünzen. Auch mit den Eingeweiden machte er, was der Fisch befohlen hatte. Und siehe da! Im Garten wuchsen zwei Schwerter, die Hündin warf zwei Junge und die Stute zwei Fohlen, und die Frau gebar zwei Söhne. Die wuchsen zu zwei grossen und schönen Burschen heran, und sie glichen sich so, dass es unmöglich war, sie auseinander zu halten.

Als sie erwachsen waren, sagte einer der Zwillinge den Eltern, sie wollten so gerne ein wenig in der Welt herumziehen. Den Eltern war dies recht. Die Mutter gab ihnen einen Ring und sagte, sie müssten diesen Ring halbieren und mit sich nehmen. Sobald der Ring des einen schwarz werde, fehle dem andern etwas. Jeder nahm ein Schwert, einen Hund und ein Pferd und machte sich auf den Weg. Als sie zu einer Stelle kamen, wo der Weg sich verzweigte, da nahmen sie mit einem herzlichen Lebewohl voneinander Abschied und trennten sich.

Gegen Abend kam der Ältere in einen Wald. Dort entdeckte er eine Hütte und trat ein. In der Küche war ein Mädchen, und er bat um ein Nachtlager. «Behüt' dich Gott!», sagte das Mädchen, «Du bist in die Hütte der zwölf Räuber geraten. Mach, dass du fortkommst, sonst werden sie dich töten!» Der Bursche antwortete, er habe ein gutes Schwert, einen guten Hund und fürchte die Räuber nicht. Sie solle ihm nur eine grosse Flasche Schnaps geben und aus der Stube flüchten, wenn die Räuber kämen.

Die Räuber kamen, und als sie den Burschen sahen, fingen sie an, die Messer zu wetzen. Jetzt wusste er, was es geschlagen hatte und schmiss ihnen die Flasche an den Kopf, so dass ihnen ganz schwindlig wurde. Dann nahm er sein feines Schwert und stach alle ab. Das Mädchen, vor Freude ausser sich, umarmte seinen Befreier und bat ihn, bei ihr in der Hütte zu bleiben, sie seien reich genug - die Räuber hatten grosse Schätze zusammen geraubt. Der Bursche versprach, in einem Jahr wieder zu kommen und sie zu heiraten, denn diese Zeit benötige er, um seinen Bruder zu suchen.

Nach langem Herumwandern kam der andere Bruder zur Räuberhütte. Das Mädchen glaubte, er sei ihr Bräutigam, und sie freute sich, dass er schon zurück sei. Der Bursche wusste jetzt, dass sein Bruder dagewesen war, und da sagte er dem Mädchen, er müsse noch einmal fort. Er habe seinen Bruder noch nicht gefunden.

Der Bruder kam unterdessen in die Stadt des Königs, aber überall begegnete er traurigen Gesichtern, und überall hing aus dem Fenster schwarzer Trauerflor. Als er fragte, was dies bedeute, wurde ihm erzählt, ausserhalb der Stadt sei ein See, dort hause ein riesiger Drache mit sieben Köpfen. Täglich müsse ihm ein Mensch und ein Stück Vieh geopfert werden. Heute sei das Los auf die Königstochter gefallen, deshalb seien alle in Trauer.

Der Bursche ging weiter durch die Stadt bis zu einer Kapelle. Dort lag die Prinzessin auf den Knien, sie betete und bereitete sich auf den Tod vor. Der Bursche hatte Mitleid mit der unglücklichen Prinzessin und sagte ihr, er wolle versuchen, den Drachen zu töten und sie zu retten. Da versprach sie, ihn zu heiraten, wenn es ihm gelinge, den Drachen zu töten.

Mit seinem guten Schwert bewaffnet und von seinem treuen Hund begleitet, ging der Bursche zum See. Aber oh Schreck! Ein fürchterlicher Drache, der speit ihm Flammen entgegen, steigt aus dem See. Ohne lang zu überlegen, schwingt der Bursche sein Schwert und schlägt mit einem Streich drei Köpfe ab. «Oh, ich habe vier und mache dich bestimmt fertig», brüllt der wütende Drache, aber in dem Augenblick fallen auf einen Schwertstreich des Burschen alle vier Köpfe.

Jetzt ist die Prinzessin befreit, und mit Tränen in den Augen fällt sie ihrem Bräutigam in die Arme. Am andern Tag machen sie fröhlich Hochzeit.

Gegen Abend steht das glückliche Brautpaar am Fenster und schaut ins Freie. Da sieht der Bräutigam in einem nahen Wald ein altes Schloss und fragt seine Braut, wem das Schloss gehöre. Sie antwortet, dieses Schloss gehöre einer Hexe, und er solle sich hüten, es zu betreten, wenn er in diesem Wald auf die Jagd gehe.

Schon am andern Tag ist er auf die Jagd, aber er kann seine Lust, ins Schloss zu gehen, nicht mehr beherrschen. Dort ist ein altes Weib, welches Küken hütet. Die ruft ihm entgegen: «Heb' deinen Hund hoch, heb' ihn hoch, er verscheucht alle meine Küken!» In dem Augenblick, als er den Hund aufnimmt, wirft sie ihm eine Halfter über, und er ist ein Pferd.

Der jüngere Bruder sah, dass sein Ring schwarz war, und daraus schloss er, dass seinem Bruder etwas zugestossen sei. Ohne zu zögern, machte er sich auf den Weg, um ihn zu suchen.

In der Stadt des Königs wurde er mit Jubel empfangen. Alle glaubten, er sei der Bräutigam der Prinzessin, und auch sie umarmte den vermeintlichen Ehemann. Aber in der Nacht legte der Ritter sein Schwert zwischen sich und die Prinzessin.

Eines Tages ging auch er auf der Jagd ins Schloss der alten Hexe. Aber er durchschaute sie gleich, und als sie ihm die Halfter überwerfen wollte, zückte er sein Schwert und schrie: «Du alte Hexe, her mit meinem Bruder, sonst hau ich dir den Kopf ab!» Die Alte verlor ihre Macht, sie zeigte dem Ritter den Pferdestall, und er nahm rasch den vielen Pferden die Halfter ab. Und siehe da! Eine Schar von Edelleuten stand vor ihm. Auch sein Bruder war erlöst und warf sich ihm an den Hals.

Dann gingen sie zusammen voller Freude in den Palast des Königs und verbrachten glückliche Tage. Die Prinzessin konnte dem Retter ihres Bräutigams nicht genug danken. Der Ältere aber führte seinen Bruder in den Wald und übergab ihm die schöne junge Frau, die er aus den Händen der Räuber befreit hatte.

 

 

Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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