Der Sonntagsschänder

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

 

Sonntagsfriede und Sonnenglanz liegt über dem Bergdörflein. Kein lauter Ton regt sich. Nur von den nahen Alpweiden klingen sanft die Herdenglocken, und weiter oben rauscht leise der Bergwald sein uraltes Lied. Alle Strassen und Plätze sind sauber gekehrt, und keine Kinder spielen heute vor den Häusern. Jung und alt ist im Kirchlein versammelt. Alle lauschen dem Gotteswort. Alle? - Nein! - Ein schwarzbärtiger Mann im Werktagsgewande verlässt sein Häuschen, schleicht wie ein Dieb auf Hinterwegen zum Dorf hinaus, eilt auf dem steilen Pfade quer durch die Weiden bergan und verschwindet im Walde. Dort oben hoch am Bergeshang findet er seinen Arbeitsplatz. Da will er Umschau halten, was in den nächsten Tagen zu schaffen sei. Er geht im Wald herum und zeichnet jene Bäume, die zum Fällen reif sind. Wenn er aber einmal die Axt in der Hand hält, dann kann er sie nicht mehr hinlegen. Sie heischt und heischt immer mehr. Er beginnt die gezeichneten Tannen anzuschneiden. Es hört ja niemand die Schläge, und er arbeitet am liebsten alleine. Die Axt bettelt: „Noch mehr, noch mehr.“ Da haut er tief und tiefer in den Schnitt und freut sich fast kindlich, wenn endlich der Baum wankt, langsam sich vornüber neigt, am Wurzelstock krachend die letzten Fasern sprengt, um dann längelang donnernd hinzufallen. Doch die Axt ist noch nicht zufrieden, sie heischt noch mehr. Erst wenn der Abendschatten sich auf den Bergwald legt, gibt sie ihr Opfer frei, und der Holzer macht sich talwärts. Er ist zufrieden mit seinem Sonntag. Es ist nicht das erste Mal, dass er ihn so feiert.

 

An einem Sommersonntag trieb es ihn wieder hinauf in den Hochwald. Kaum hatte er die Axt in die Hand genommen, da packte ihn die Leidenschaft. Er fällte einen Baum und noch einen. Er merkte nicht, wie sich über ihm rasch die Wetterwolken zusammenballten, sah nicht die Blitze zucken, hörte nicht den Donner rollen. Er hatte nur Augen für das Blitzen der Axt, nur Ohren für das Rollen der stürzenden Bäume. Wieder hatte er eine mächtige Tanne bis ins Mark gehauen. Sie krachte, sie neigte sich. Er sprang zurück um sich am Sturze des Riesen zu weiden. Da flammte ein Blitzstrahl, die Erde erbebte, und der Donnerhall übertönte das Krachen des fallenden Baumes. Dann ward es still am Berghang droben.

Als die andern Holzer am nächsten Morgen auf die Stätte kamen, fanden sie den Toten. Er lag auf dem Angesicht und hielt die Axt noch in der Hand. Sie wollten ihn aufheben. Da zerrann er in ihren Händen wie mürber Sandstein. Nur ein Häuflein Asche blieb am Boden. Darunter aber begann ein Samenkorn zu keimen. Niemand sah es. Leise wuchs es in die Tiefe. Die Asche gab seinen Würzelchen reiche Nahrung. Leise wuchs es in die Höhe. An der warmen Herbstsonne entfaltete es seine Nadeln. Wie ein grünes Sternlein sahen sie aus. Dann kam der Wintersturm und deckte es sorgsam mit einer weichen Schneedecke zu. Es schlief und schlief, bis der brausende Föhn es weckte und die Decke von ihm zog. Da war es Frühling geworden. Das Tännchen wuchs einen Sommer lang. Niemand achtete seiner. Es wuchs und wuchs Jahr um Jahr und reckte seinen Wipfel höher und höher empor. Einmal kamen Holzhauer vorbei. Einer blieb stehen und sagte: „Hier, wo die junge Tanne steht - genau da - ist einmal einer vom Blitz getroffen worden.“ Im Weitergehen erzählte er seinen jüngern Genossen die Geschichte.

So ging die Erinnerung von einer Generation zur andern. Die Tanne aber wuchs indessen weiter und wurde eine Riesin. Jetzt erst entdeckte man, welch furchtbar Geheimnis sie durch all die Zeit behütet hatte. Gleich wie die Seele im Körper, so wohnte in ihr der büssende Geist des Sonntagsschänders und tat deutlich seine Zeichen. Die ganze Woche hindurch stand der Baum regungslos und stille da, als ob er schliefe und träumte. Wenn aber am heiligen Sonntagmorgen der Berg wie ein Riesenaltar sich zum Himmel reckte, darüber die Sonne wie eine Monstranz erglänzte, die Glocken über Felder und Wälder ihren süssen Klang in die Bergeinsamkeit hinauftrugen, der Hochwald wie eine mächtige Orgel rauschte, das Zwitschern der Vögel, das Summen der Insekten, das Zirpen der Grillen wie ein hundert tausendstimmiges Loblied zum Himmel emporjubelte, dann – dann ging ein Zittern und Beben durch die Riesentanne. Dann hoben und senkten sich ihre Äste, als wollte nie mit hundert Armen verzweifelt um sich greifen, nach einem Halt suchen und sich selbst aus der Erde reissen.

Kein Holzer hätte es je gewagt, die Axt an sie zu legen. So blieb sie stehen, hundert und vielleicht noch einmal hundert Jahre, bis einst ein Sturm die Morsche fällte und damit wohl auch die Seele des Büssers erlöste.

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

 

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