Der verlorene Sohn

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Im Bergland droben wohnte ein reicher Bauer. Der hatte einen einzigen Sohn. Eines Tages kam der Herr Pfarrer ins Haus und sagte den Eltern, der Bub, der Fridel, sei ein ganz talentierter Bursche, sie sollten den studieren lassen. Es würde sicher etwas Tüchtiges aus ihm. „Ihr meint es gut, Herr Pfarrer“, entgegnete der Bauer, „aber wer soll dann einmal den Hof übernehmen, wenn der Bub ein Gelehrter wird? Ich will mir die Sache noch gründlich überlegen“.

Am Abend hielten die Eltern Rat. Der Vater glaubte noch immer, es wäre das Beste, aus dem Bub einen Bauer zu machen. Aber die Mutter entgegnete: „Denk doch, wenn der Fridel Pfarrer würde - oder Dekan - oder sogar -. Nein, ich darfs nicht sagen. Aber stelle dir vor, es wäre dann einmal Chrismet in unserem Dorfe, alle Häuser mit Fahnen geziert, das ganze Volk auf dem Platz versammelt, und dann käme eine feine Kutsche, und unser Bub stiege aus, mit einem goldgestickten Chormantel angetan, die Mitra auf dem Haupte, den goldenen Krummstab in der Hand - und alles Volk kniete nieder, und er ginge segnend durch ihre Reihen, - nein, ich darf nicht weiterdenken; ich glaube, ich könnte selbst im Himmel keine grössere Freude mehr erleben.“

„So weit denke ich einstweilen noch nicht“, antwortete der Vater, “aber ich glaube selber auch, aus dem Bub könnte etwas Grosses werden. Wie wäre es, wenn wir den Versuch wagten und ihn vorerst ein Jahr auf die lateinische Schule schickten? Latein muss einer können, sonst wird er kein Gelehrter. Alles Weitere ergibt sich vielleicht ganz von selber“.

Mit diesem Vorschlag war die Mutter freudig einverstanden. Sie begann alsbald dem Fridel sein Bündel zu rüsten, und eines Morgens nahm der Bub Abschied. Der Vater führte ihn mit dem Wägeli in die ferne Stadt. Dort gab er ihm eine „Blater“ voll Gold- und Silberstücke und eine noch viel grössere Menge heilsamer Ermahnungen. Dann kehrte er wieder heim. Der Sohn mietete eine billige Bude und kaufte sich eine himmelblaue, samtene Studentenmütze. Tag für Tag durchwanderte er jetzt die Stadt nach allen Richtungen und fand immer wieder neue Herrlichkeiten, die dem Bauernjungend aus dem Bergland das Herz entzückten. 

Bald machte er Bekanntschaft mit andern buntbemützten Burschen. Die lehrten ihn, das Leben von der heitern Seite zu nehmen. Sie besuchten fleissig die Sehenken, leerten die Humpen, sangen allerlei Flausenlieder und brachten des Nachts den schönen Mädchen Serenaden. Dem Fridel gefiel dieses fröhliche Leben über alle Massen. Bald war er der lustigste und witzigste unter allen. Aber die Gold- und Silbervögel flogen einer nach dem andern aus der Blater, und nach einigen Wochen war diese leer. Jetzt liessen ihn die Kumpane im Stich. Fridel ging allein, hungrig und durstig durch die grosse Stadt und zerbrach sich den Kopf, was er nun tun solle. Da erinnerte er sich des verlorenen Sohnes in der Bibel und sprach zu sich selber:

„Habe ich nicht gleich gehandelt wie er - mein Geld mit leichtsinnigen Kameraden verschwendet - nichts gearbeitet? Nun muss ich hungern. Soll ich jetzt auch Schweine hüten? Nein, nur das nicht! - Doch, wie geht die Geschichte weiter? Ach ja: Wie viele Knechte im Hause meines Vaters haben Brot im Überflusse; ich aber sterbe hier vor Hunger. Ich will mich aufmachen, zu meinem Vater gehen und ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt. - Ja, ich will es auch so machen, will ins Vaterhaus zurückkehren.“

Noch am selben Tage schnürte er sein Bündel und trat die Heimreise an. Aber mit jedem Schritt, der ihn der Heimat näher brachte, entschwand ihm der Mut. Was sollte er Vater und Mutter sagen? Er habe das viele Geld verjubelt, verzecht und die Lateinschule kein einziges Mal besucht? Nein, dieses Bekenntnis brachte er nicht über die Lippen, das wusste er. Also was sagen? Da war guter Rat teuer.Müde liess er sich am Wegrande, im Schatten eines Baumes nieder und dachte nach - dachte nach. Da hörte er über sich ein Vöglein singen. Er schaute hinauf und sah einen merkwürdigen, sichelförmig gekrümmten Ast am Baume. Mitten im Bogen sass ein Fink, äugte zu ihm herunter, schüttelte das Köpflein und schmetterte aus vollem Hals ein Lied. „Das Vöglein will mir gewiss etwas sagen“, dachte Friedel, und horchte gespannt. Da war es ihm, als hörte er es also singen: „Ei, ei, ei, sei nicht so dumm und lüg doch.“ - Jetzt kam dem Bursche ein rettender Gedanke. „Finklein, du hast recht. Ich werde lügen - aber lateinisch lügen.“ Als er nach einer kleinen Weile wieder zum Baume aufblickte, da war das Vögelein fort und der krumme Ast leer. „Der krumme Ast - wie könnte man das wohl lateinisch sagen?“ dachte er. „Ich habs: Chromastus soll das Ding heissen. - Chromastus.“

Freudig erregt stand er auf, hängte sein Bündel um und wanderte weiter. Da fand er auf der staubigen Strasse einen leeren Kornsack. Er hob ihn auf und nahm ihn mit. Im nächsten Dorfe verkaufte er ihn einem Bauer für zwei Batzen. Mit diesem Gelde ging er schnurstracks in die Wirtschaft und liess sich einen Schoppen und ein Stück Brot bringen. Während er beides genoss, dachte er nach wie man dieses Ereignis lateinisch erzählen könnte. Plötzlich lachte er laut auf: „Ich mache es kurz und gut. Alter Sackfundus heisst die Geschichte.“

Neugestärkt verliess der Studios die Schenke und wanderte weiter. Der Weg schien ihm endlos lang, die Sonne brannte heiss, und kein lebendes Wesen begegnete ihm. Endlich kam er zu einem Bauernhaus. Auf der Matte nebenan weidete eine Mähre mit ihrem Fohlen. Das Bild erinnerte ihn an daheim. Er blieb stehen und schaute dem munteren Spiele der beiden Tiere zu. Da fing das „Fili“ an zu galoppieren, zuerst rund um die Mähre herum, dann immer in grösseren Kreisen und rascherem Tempo. Plötzlich stürzte es und trohlte über und über. Aber im Nu stand es wieder auf den Beinen und eilte zur Mutter, die es herzlich liebkoste und leckte. Der Wanderer zog weiter und dachte lange nach, wie er dieses Geschehnis lateinisch ausdrücken könnte. „In Matta Fili-um“, schien ihm endlich das beste zu sein.

Die Strasse ging in steilen Windungen bergan. Auf der Höhe lag ein Dörfchen. Von dort nahten zwei Männer mit einem Fuder Heu. Einer lenkte an der Deichsel das Gefährt, der andere folgte hintennach und drehte die Bremse. Langsam kamen sie näher. Auf einmal ging das Fuder schneller und schneller. Der Mann an der Deichsel stemmte mit aller Kraft rückwärts und rief nach hinten: „Sperr, sperr - i mas nüme b’ha!“ Der andere antwortete: „I cha nit! D’ Mekanig ist kaput!“ Immer rascher rollte der Wagen abwärts. Jetzt kam eine Kurve. Der Mann an der Deichsel sprang auf die Seite und liess das Fuder gradaus gehen. Es schoss über den Strassenrand hinaus, überschlug sich ein halbdutzendmal und blieb unten am Hügel liegen, die Räder nach oben gekehrt. Fridel hatte aus nächster Nähe den ganzen Vorfall beobachtet. „Das gibt wie der einen lateinischen Vers“, dachte er im Weitergehen. „Spera caput - Radobus, damit ist alles gesagt.“

Ein lustiges Studentenlied singend durchwanderte er das Dorf. Wie gerne wäre er hier eingekehrt, aber er hatte kein Geld. Also weiter, immer weiter, bald an Kornfeldern vorbei, bald durch schattige Wälder, bald einem plaudernden Bach entlang, so ging der Weg aufwärts den Bergen zu. Die Sonne näherte sich schon dem Horizonte. Fridel war müde und durstig. Da erblickte er etwas abseits der Strasse einen Brunnen, über den eine mächtige Linde schützend ihre Äste streckte. An diesem schönen Plätzlein wollte er eine Weile rasten. Er setzte sich auf den Rand des Brunnens, tauchte die Hände in das kalte Nass und benetzte das erhitzte Gesicht. Dann trank er in grossen Zügen aus dem sprudelnden Quell. Eine wohlige Müdigkeit schlich ihm in die Glieder. Er streckte sich im Schatten des Baumes aus, nahm sein Bündel unter den Kopf und schlummerte ein.

Jetzt kam ein hübsches, blitzsauberes Mädchen auf einem Feldwege daher, um Wasser zu holen. Es stellte den Kessel unter die Röhre, und während er sich füllte, erging es sich im Lindenschatten. Doch plötzlich erschrak es heftig. Wer lag denn da im Grase? Wohl ein müder Handwerksbursche - nein, ein Student musste das sein. Die bunte Mütze lag auf seiner Brust. Das Mägdlein trat näher und betrachtete den Schläfer.

„Gott, welch ein schöner Bursche das ist, mit blonden Locken, frisch- roten Wangen und weichem Flaum um die Lippen. Atmet er noch?“

Es kniete neben ihm nieder und horchte. Da spürte es einen warmen Atem an seiner Wange. Und plötzlich - ohne dass es recht wusste, was es tat - hauchte es einen weichen Kuss auf des Burschen Mund. Jetzt schlug der Junge seine hübschen Augen auf und blickte die Maid freudig erstaunt an. Sie aber sprang mit schamroten Wangen auf, ergriff den vollen Kessel und eilte von dannen. „Wie heissest du?“ rief er ihr nach. „Regin“, tönte es leise zurück. „Donnerwetter, das ist ein nettes Meitli“, brummte Fridel und leckte sich die Lippen ab. „Die hat ein Schnäbelein, wie Honig so süss. Und Regin heisst sie? - Regina, das ist ein lateinischer Name. Wart, das gibt wieder ein feines Sprüchlein. Ich habs schon. Regina - Hung Schnaboli. Ja, grad so!“

Das reizende, kleine Erlebnis, hatte dem Wanderer alle Müdigkeit weggenommen. Bald singend, bald pfeifend ging er wieder seines Weges. Die Nacht brach herein, und das war ihm gerade recht, denn er nähert sich schon dem Heimatdorfe. Die Leute sollten seine Heimkehr noch nicht erfahren. Spät in der Nacht klopfte er am Elternhause an. Vater und Mutter waren voll Freude, als sie ihren Einzigen wieder sahen. Wie dem verlorenen Sohne, so wurde auch ihm das Beste aus Küche und Keller aufgetragen und ein Freudenmahl gehalten. Doch endlich stellte der Vater die gefürchteten Fragen, was er in der Stadt gelernt habe, und warum er so bald wieder heimgekehrt sei. Jetzt musste der Bub mit seiner Lüge heraus. „Ich habe fleissig Latein studiert und in zwei, drei Wochen gelernt, was andere in soviel Jahren nicht fertig bringen.“ - „Hm, das scheint mir doch etwas flink gegangen zu sein“ zweifelte der Vater. „Lass hören! Erzähle mir auf lateinisch irgend etwas, das du erlebt hast.“ Nun stand der Fridel auf und mit gehobener Stimme und feierlicher Geste trug er vor:

“Cromastus

Alter Sackfundus

In Matta Filium

Spera caput - Radobus

Regina, Hunc Schnaboli 

Oh gaudium!“

Unwillkürlich leckte er bei den letzten Worten in seliger Erinnerung wieder die Lippen. Der Vater aber durchschaute ihn und sprach: „Also ist es doch wahr, was die Leute munkeln, - du habest in der Stadt ein Vagantenleben geführt und nur die Liederlichkeit gelernt. So wie du kann ich auch lateinisch. Fridelibus, jetzt ist’s fertig mit studieribus - jetzt heisst’s wieder schaffibus - morgen schon Mist zettibus“. Das war dem Burschen gerade das Rechte. Gerührt von des Vaters Güte bekannte er: „Ja, Vater, ich habe gesündigt und deine Liebe und Güte missbraucht. Ich habe dein Geld mit liederlichen Kumpanen verjubelt und nichts gelernt. Nimm mich wieder in deinem Hause auf. Ich will schaffen wie ein Knecht und alles wieder gut machen. Ein Bauer will ich werden und kein Gelehrter.“ Jetzt umarmte ihn der Vater und sprach: „So, nun gefällst du mir wieder, Fridel. Mit der Studiererei war ich sowieso immer nur halb einverstanden. Bauern wollen wir sein und bleiben. Bauern!“

Doch über die Freude der beiden flog bald ein dunkler Schatten. Sie dachten an den morgigen Tag, an die Nachbarn und an den blöden Klatsch im Dorf. „Unbrauchbar - durchgefallen - fortgejagt - zu hoch hinaus gewollt“ - so und ähnlich werden die Schlagwörter lauten. Für Schadenfreude, Spott und Hohn brauchte man gewiss nicht zu sorgen. Lange rieten sie hin und her. Endlich fanden sie eine Lösung. Fridel sollte sich noch einige Zeit in der hintern Stube versteckt halten und niemand zeigen. So würden alle Leute glauben, er sei noch immer in der Fremde. Nach einigen Wochen gehe das Sommersemester zu Ende. Dann dürfe er das Versteck verlassen, mit Ehren unter die Mitmenschen treten und diese glauben lassen, er habe Ferien.

Doch es kam anders. Am folgenden Morgen spazierte Fridel wie ein Gefangener in seiner engen Kammer herum. Da hörte er, wie draussen, just vor seinem Fenster, der Vater mit dem Nachbar in Streit geriet. Von Hühnern und zertretenem Gras handelte zuerst der heftige Disput. Dann ging er nach und nach in grobe persönliche Beschimpfung über. Endlich sagte der Vater: „Putz du vor deiner Türe - hast dort genug Dreck!“ Der Nachbar schnaubte vor Zorn und rief: „Du - du könntest noch in der Stadt Dreck putzen. Es ist einer dort, der macht nichts als saufen und den Weibern nachlaufen!“ Jetzt hielt der Vater die geballte Faust dem Nachbar unter die Nase. Der aber wich einen Schritt zurück und drohte mit der Hacke dreinzuhauen. Jetzt hielt es der Fridel nicht mehr länger in der „Fremde“ aus. Er riss das Fenster auf, satzte hinaus und hieb dem Nachbar ein paar saftige Ohrfeigen herunter. Der aber liess die Hacke fallen und floh ins Dorf. Dort erzählte er allen Leuten, der Student sei wieder daheim - vielleicht schon lange daheim - wohl fortgejagt worden - der Alte habe ihn in die hintere Stube eingesperrt.

Wohl die meisten Menschen machen in ihrem Leben einmal eine Dummheit, die einen schon früh, die andern erst spät. Glücklich wer in der Jugend um diese Erfahrung reicher wird. Sie schützt ihn vor weitern Entgleisungen. Bei Fridel war es so. Als er sein Abenteuer hinter sich hatte, wurde er ein ernster Mann. Unbekümmert um Spott und Hohn und üble Nachrede, ging er seinen Weg, schaffte vom frühen Morgen bis zum späten Abend, nahm den Eltern an Arbeit ab, was er nur konnte und machte ihnen mit jedem Tag mehr Freude. Nach und nach verstummten alle Spötter, und man redete wieder mit Hochachtung von dem jungen Manne. Einmal noch griff er zum Wanderstabe und pilgerte ins Unterland. Dort fragte er in einem gewissen Dorfe vorsichtig nach einer blondzopfigen Maid, namens Regin. Er fand sie, warb um ihre Hand und führte sie als Frau nach Hause.

Das ist die Geschichte vom verlorenen Sohn, der ein Pfarrer oder Bischof oder Gelehrter werden sollte und dann ein tüchtiger Bauer wurde, was auch nicht wenig ist. 

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

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